Was hast du getan, Jacob?
Er hatte seinen Bruder beschützt. Und Will lebte. Mit einer Haut aus Jade, doch er lebte, und Jacob bereute nur eins: dass er die Weidenblätter verloren hatte und mit ihnen jede Hoffnung, sich und die anderen vor der Dunklen Fee zu schützen. Sie sah Jacob nach, als er Clara mit Fuchs in die Kutsche folgte. Ihr Zorn brannte ihm immer noch auf der Haut und er hatte sich nun auch die Kaiserin und mit ihr die halbe Spiegelwelt zum Feind gemacht. Alles, um seinen Bruder zu retten.
Bevor sie losfuhren, kletterte zu jedem Kutscher ein Goyl auf den Bock. Sie stießen die Kutscher herunter, sobald sie eine der Brücken erreichten, die aus der Stadt führten. Die Gardisten, die das Brautpaar eskortierten, versuchten sie aufzuhalten, aber die Dunkle Fee ließ ihre Motten los, und die Goyl lenkten die Kutschen über die Brücke, die ein Vorfahre der Braut erbaut hatte, und von dort in eine der Straßen am anderen Flussufer.
Ein Dutzend Kutschen, vierzig Soldaten. Eine Fee, die ihren Geliebten beschützte. Eine Prinzessin, die zwischen Leichen geheiratet hatte. Und ein König, der seiner Feindin getraut und von ihr betrogen worden war. Er würde sich dafür rächen. Aber Jacob wiederholte sich immer wieder nur eins, während Valiant sich dafür verfluchte, dass er es für eine gute Idee gehalten hatte, auf eine kaiserliche Hochzeit zu gehen: Dein Bruder ist am Leben, Jacob. Nichts anderes zählt.
Am Himmel trieben dunkle Wolken, als die Kutschen durch ein Tor fuhren, hinter dem eine Ansammlung schmuckloser Gebäude einen weiten Hof umstand. Jeder in Vena kannte die alte Munitionsfabrik - und mied sie. Die Fabrik war verlassen, seit der Fluss vor ein paar Jahren über die Ufer getreten war und die Gebäude mit Wasser und stinkendem Schlamm gefüllt hatte. Während der letzten Choleraepidemie waren viele Kranke zum Sterben hergebracht worden, aber die Goyl beunruhigte das nicht. Sie waren gegen die meisten Menschenkrankheiten immun.
»Was haben sie vor?«, flüsterte Clara, als die Kutschen zwischen den roten Mauern anhielten.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jacob.
Aber Valiant stieg auf die Kutschbank und lugte auf den verlassenen Hof hinaus. »Ich hab da so eine Idee«, knurrte er.
Will war der Erste, der aus der goldenen Kutsche stieg. Dann folgten der König und seine Braut, während die Goyl die Geiseln aus den anderen Kutschen zerrten. Einer von ihnen stieß die Kaiserin zurück, als sie versuchte, zu ihrer Tochter zu kommen, und Donnersmarck zog sie schützend an seine Seite. Die Dunkle Fee aber trat in die Mitte des Hofes und musterte die leeren Gebäude. Sie würde ihren Geliebten nicht noch einmal in einen Hinterhalt stolpern lassen. Fünf Motten lösten sich von ihrem Kleid und flogen auf die leeren Gebäude zu. Lautlose Spione. Geflügelter Tod.
Die Goyl aber blickten ihren König an. Vierzig Soldaten, knapp dem Tod entkommen, auf dem Gebiet ihrer Feinde. Was nun?, fragten ihre Gesichter. Sie verbargen ihre Angst nur mühsam unter ihrem hilflosen Zorn. Kami'en winkte einen von ihnen zu sich. Er hatte die Alabasterhaut ihrer Spione.
»Prüft, ob der Tunnel sicher ist.« Der König klang gelassen. Falls er Angst hatte, verbarg er sie besser als seine Soldaten.
»Ich verwette meinen Goldbaum darauf, dass ich weiß, wo sie hinwollen!«, raunte Valiant, als der Alabastergoyl zwischen den verlassenen Gebäuden verschwand. »Einer unserer dümmsten Minister hat vor Jahren zwei Tunnel nach Vena bauen lassen, weil er nicht an die Zukunft der Eisenbahn glaubte. Einer sollte diese Fabrik beliefern. Es gibt Gerüchte, dass die Goyl ihn mit ihrer westlichsten Festung verbunden haben und ihre Spione ihn benutzen.«
Ein Tunnel. Es geht wieder unter die Erde, Jacob. Falls sie die Geiseln nicht vorher erschossen.
Die Goyl trieben sie zusammen, und Jacob bückte sich nach Fuchs, damit sie zwischen all den panischen Menschenfüßen nicht verloren ging, doch einer der Soldaten packte ihn und zerrte ihn grob zwischen den anderen hervor. Jaspis und Amethyst. Nesser. Jacob erinnerte sich noch gut daran, wie sie ihm die Skorpione auf die Brust gesetzt hatte. Fuchs wollte ihm nach, aber Clara nahm sie hastig auf den Arm, als die Goyl die Pistole auf sie richtete.
»Hentzau ist mehr tot als lebendig!«, zischte sie Jacob zu, während sie ihn mit sich zerrte. »Wieso lebst du immer noch?«
Sie stieß ihn über den Hof, vorbei an dem König, der mit Will neben den Kutschen stand und sich mit den zwei Offizieren besprach, die das Massaker überlebt hatten. Den Goyl blieb nicht viel Zeit. Bestimmt waren die Toten in der Kathedrale inzwischen entdeckt worden.
Die Dunkle Fee stand am Fuß der Treppe, die zum Fluss hinunterfuhrte. Der steinerne Arm eines Anlegers ragte ins Wasser, auf dem der Abfall der Stadt wie eine schmutzige Haut trieb. Aber die Fee blickte hinein, als sähe sie die Lilien, zwischen denen sie geboren worden war. Sie wird dich töten, Jacob.
»Lass mich mit ihm allein, Nesser«, sagte sie.
Die Goyl zögerte, aber schließlich warf sie Jacob einen hasserfüllten Blick zu und stieg die Treppe wieder hinauf.
Die Fee strich sich über den weißen Arm. Jacob sah Spuren von Baumrinde daran. »Du hast hoch gespielt und verloren.«
»Mein Bruder hat verloren«, gab Jacob zurück.
Er war so müde. Wie würde sie ihn töten? Mit ihren Motten? Durch irgendeinen Fluch?
Die Dunkle Fee blickte hinauf zu Will. Er stand immer noch neben Kami'en. Sie schienen mehr denn je zusammenzugehören.
»Er war alles, was ich erhofft habe«, sagte sie. »Sieh ihn an. All das Steinerne Fleisch. Nur für ihn gesät.« Sie strich über die Rinde an ihrem Arm.
»Ich werde ihn dir zurückgeben«, sagte sie. »Unter einer Bedingung. Bring ihn weit, weit fort, so weit, dass ich ihn nicht finden kann. Denn sonst werde ich ihn töten.«
Jacob konnte nicht glauben, was er hörte. Er träumte. Das war es. Irgendein Fiebertraum. Wahrscheinlich lag er immer noch in der Kathedrale und ihre Motten stießen ihm Gift unter die Haut.
»Warum?« Selbst das eine Wort brachte er kaum über die Zunge.
Warum fragst du, Jacob? Warum willst du wissen, ob es ein Traum ist? Wenn ja, dann ist es ein guter. Sie gibt dir deinen Bruder zurück.
Die Fee antwortete ihm ohnehin nicht.
»Bring ihn in das Gebäude neben dem Tor«, sagte sie und wandte sich wieder dem Wasser zu. »Aber beeil dich. Und nimm dich vor Kami'en in Acht. Er wird seinen Schatten nicht gern verlieren.«
Jaspis, Onyx, Mondstein. Jacob verfluchte seine Menschenhaut, während er mit gesenktem Kopf den Hof überquerte. Von den überlebenden Goyl wusste bestimmt kaum einer, dass sie ihm ihr Entkommen verdankten. Zum Glück bewachten die meisten die Geiseln oder kümmerten sich um die Verwundeten, und Jacob erreichte die Kutschen, ohne dass man ihn anhielt.
Kami'en stand immer noch mit seinen Offizieren zusammen, doch der Alabastergoyl war noch nicht zurück. Die Prinzessin trat auf ihren Ehemann zu und redete auf ihn ein, bis er sie ungeduldig mit sich zog. Will folgte dem König mit den Augen, aber er ging ihm nicht nach.
Jetzt, Jacob.
Wills Hand führ an den Säbel, sobald er zwischen den Kutschen hervortrat.
Wollen wir Fangen spielen, Will?
Sein Bruder stieß zwei Goyl aus dem Weg und begann zu rennen. Seine Wunden schienen ihn kaum zu behindern. Nicht zu schnell, Jacob. Lass ihn näher kommen, so, wie du es getan hast, als ihr noch Kinder wart. Zurück zwischen die Kutschen. An der Baracke vorbei, in die sie die Geiseln gesperrt hatten. Das nächste Gebäude war das neben dem Tor. Jacob stieß die Tür auf. Ein dunkler Flur mit vernagelten Fenstern. Die Lichtflecken auf dem schmutzigen Fußboden sahen aus wie verschüttete Milch. Im nächsten Raum standen noch die Betten für die Choleraopfer. Jacob versteckte sich hinter der offenen Tür. Wie damals.
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