Die Wilden Hühner
FUCHSALARM
Cornelia Funke
1
Frieda nahm sich gerade die zweite Portion Lasagne, als das Telefon klingelte.
»Teelofon!«, brüllte Luki, ihr kleiner Bruder, und kippte vor Aufregung seinen Apfelsaft um. Friedas großer Bruder Titus schob grinsend seinen Stuhl zurück. »Wetten, das ist wieder Friedas Liebster?«, sagte er und schlenderte in den Flur.
»Ich habe keinen Liebsten, verdammt noch mal!«, rief Frieda ihm hinterher.
»Frieda, lass das Fluchen!«, sagte ihr Vater.
Luki hielt ihr seinen dampfenden Teller unter die Nase.
»Pusten, Frisa«, lispelte er ihr ins Ohr.
Frieda pustete und lauschte in den Flur.
»He, Sprotte, na so was!«, säuselte Titus ins Telefon. »Seit wann können Hühner denn telefonieren?«
Im Nu stand Frieda neben ihm und riss ihm den Hörer aus der Hand. »Was gibt's?«, fragte sie. »'tschuldige, aber ich dachte ... «
»Der Fuchs kommt, Frieda!«, flüsterte Sprotte ihr ins Ohr. »Hast du verstanden?«
»Der Fuchs?« Frieda rutschte fast der Hörer aus der Hand. Titus saß wieder am Küchentisch, aber er guckte neugierig zu ihr rüber. Schnell drehte sie ihm den Rücken zu. »Ja, ja, der Fuchs!« Sprotte klang furchtbar aufgeregt. »Telefonkette! Dringendes Bandentreffen um drei Uhr. Ist euer Keller frei?«
»Ja, aber - was ist denn passiert? Wir haben noch nie ... « »Erklär ich alles später!«, raunte Sprotte und legte auf. Frieda stand da wie vom Donner gerührt. Der Fuchs kommt! In der Geheimsprache der Wilden Hühner hieß das höchste Gefahr, Lebensgefahr! Nur im allerschlimmsten Notfall durfte ein Wildes Huhn Fuchsalarm geben. Sprotte hatte die Regel selbst gemacht. Mit gerunzelter Stirn
starrte Frieda das Telefon an.
»Frieda, iss bitte weiter«, sagte ihre Mutter. »Die Lasagne wird kalt.«
»Ja, ja, sofort«, murmelte Frieda. »Ich muss nur schnell noch mal telefonieren.« Hastig wählte sie Trudes Nummer. »Bogolowski«, muffelte Trude ins Telefon. »Der Fuchs kommt!«, flüsterte Frieda. »Was?«, kam es entgeistert vom anderen Ende. »Telefonkette!«, flüsterte Frieda. »Treffen um drei in unserem Keller.« »Oh, Gott! Na gut. Geht klar«, stammelte Trude. »Äh, Mo ment. Wie ging das noch mal, Telefonkette? Muss ich Wilma anrufen oder Melanie?«
»Mensch, Trude!« Frieda stöhnte. »Schreib dir das endlich mal auf. Du musst Melanie anrufen und die dann Wilma, kapiert?«
»Alles ... alles klar«, stotterte Trude. »Aber Fuchsalarm, wieso denn Fuchsalarm? Bist du sicher? Was ist denn passiert?«
»Frieda!«, sagte ihr Vater. »Wenn du nicht gleich am Tisch sitzt, leg ich den Hörer für dich auf.«
»Bis heut Nachmittag«, flüsterte Frieda und legte auf. Dann setzte sie sich wieder an den Tisch und stocherte in ihrer Lasagne herum.
»Der Fuchs kommt!«, raunte Titus ihr ins Ohr. »Lass das, Blödmann«, murmelte Frieda. »Ist das was aus eurer Gacker-Geheimsprache?«, spottete Titus.
Argerlich schubste Frieda ihn weg. »Geht dich gar nichts an.« Fuchsalarm wird nur gegeben, wenn es um Leben und Tod geht, stand im Geheimen Bandenbuch der Wilden Hühner. Du meine Güte.
Wer konnte denn in Lebensgefahr sein? Sprotte? Heute Morgen in der Schule hatte sie doch noch den Mädchenkneifer aus der Parallelklasse verhauen ... Luki zerrte an Friedas Ärmel und redete auf sie ein, aber Frieda hörte nicht zu. Alles Mögliche hatten die Wilden Hühner schon miteinander durchgemacht - Sprottes Oma ärgern, Melanies Pickellaunen, Trudes Scheidungstränen und Diäten, Wilmas Dauerschulstress und die ewigen Nervereien der Pygmäen, aber noch nie hatte eine von ihnen Fuchsalarm gegeben, noch nie! Rattenalarm, ja, das war schon vorgekommen, zum Beispiel damals, als die Pygmäen Melanies Tagebuch geklaut hatten, und als Wilma beim Spionieren geschnappt und von den Jungs verschleppt wurde, hatte Sprotte sogar >Marderalarm< gegeben. Aber Fuchsalarm! Nein, da musste etwas viel, viel Schlimmeres passiert sein. Frieda kaute auf ihren kalten Nudeln herum. Planten die Pygmäen was besonders Gemeines? Ach was, die waren im Moment friedlich, bis auf Torte, und der, na ja ... Frieda wurde rot und versuchte an etwas anderes zu denken. Hatte Sprotte vielleicht Ärger mit dem blöden neuen Freund von ihrer Mutter? Aber deshalb würde sie doch nie Fuchsalarm geben! Nein, unmöglich.
Eine kleine Speckhand fuhr Frieda übers Gesicht. »Wo is ein Fuchs, Frisa?«, fragte Luki. »Fressen Füchse Menssen?« »Nee, die fressen ...«, Titus griff nach der Feder, die um Friedas Hals baumelte, »... Hüüüüühner!« Ärgerlich schlug Frieda seine Hand weg. »Wieso trefft ihr euch schon wieder in unserem Keller?«, flüsterte Titus ihr zu. »Hat eure alberne Bande immer noch kein Nest?« Frieda warf ihm nur einen vernichtenden Blick zu.
»Wieso ein Nest?«, lispelte Luki und bohrte seinen kleinen Finger in Friedas Lasagne. »Haben Füchse auch Nester?« Frieda stöhnte, zog Lukis Finger aus den Nudeln und wischte ihm etwas Soße von der Backe.
Leider hatte Titus Recht. Die Wilden Hühner besaßen immer noch kein Hauptquartier. Die Bretterbude, die sie auf dem verwilderten Grundstück hinter der Schule gebaut hatten, war beim letzten Sturm einfach umgekippt, und ein Baumhaus, wie die Pygmäen es besaßen, kam für die Hühner nicht in Frage, weil Sprotte Höhenangst hatte. Obwohl sie das natürlich nicht zugab. Es war ein Trauerspiel. Der Winter lauerte schon hinter den kahler werdenden Bäumen, und die Wilden Hühner mussten ihr Bandenbuch und die Hühnerschätze in der Heukiste unter Wilmas Meerschweinkäfig verstecken und sich in einem Tischtenniskeller treffen. Ständig gestört von Titus und seinen nervenden Freunden oder von Luki, der in geheime Bandentreffen platzte mit der Frage »Darf ich auch ein Keks?« und wunderbare Kritzelbilder in ihr Bandenbuch malte. Es war nur schwer auszuhalten.
Und jetzt auch noch Sprottes Anruf. Fuchsalarm ... Mein Gott!, dachte Frieda. Was ist bloß passiert?
2
Um kurz vor drei zog Frieda die Wohnungstür hinter sich zu und lief durchs Treppenhaus hinunter zur Haustür. Ausnahmsweise spionierte ihr keiner ihrer Brüder nach. Titus stritt sich lautstark mit ihrer Mutter, und Luki war damit beschäftigt, sich den Bauch mit Wachsstiften anzumalen. Frieda musste nicht lange auf die anderen Hühner warten. Um Punkt drei klingelte Wilma, und zwei Minuten später schoben Melanie und Trude ihre Fahrräder in den Hausflur. »Können wir die Räder hier drin abstellen?«, fragte Trude atemlos. Sie kam immer aus der Puste vom Radfahren. Frieda zuckte die Achseln. »Klar, die Nachbarn werden sich beschweren, aber was soll's.«
»Diese Erkältung bringt mich noch um«, schniefte Wilma. »Meine Taschentücher sind schon wieder aufgebraucht.« Melanie lehnte ihr Fahrrad gegen die Wand und warf ihr ein Päckchen Papiertaschentücher zu. »Ist Sprotte noch nicht da?«, fragte sie spitz.
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