Den Spion hatte er vollkommen vergessen. Der Mann riss entsetzt die Augen auf, als seine Lampe Jacobs Gestalt aus der Dunkelheit löste. Jacob schlug ihm die Taschenlampe gegen die Schläfe und fing den zusammensackenden Körper auf, aber eine der mageren Schultern streifte die Holzwand, und die Gaslampe fiel zu Boden, bevor Jacob sie auffangen konnte.
»Was war das?«, hörte er die Fee fragen.
Jacob löschte die Lampe und hielt den Atem an.
Schritte.
Er tastete nach der Pistole, bis ihm einfiel, wer da auf die Holzwand zukam.
Will trat sie ein, als wäre sie aus Pappmaschee, und Jacob wartete nicht ab, bis sein Bruder sich durch das zersplitterte Holz zwängte. Er stolperte zurück zu der getarnten Tür, während die Dunkle Fee nach den Wachen rief.
Bleib stehen, Jacob. Aber nichts hatte ihm je so viel Angst gemacht wie die Schritte, die ihm folgten. Will sah in der Dunkelheit sicher ebenso gut wie Fuchs. Und er war bewaffnet.
Mach, dass du aus der Dunkelheit kommst, Jacob. Da ist er im Vorteil. Jacob riss den Vorhang herunter, als er durch die getarnte Tür ins Freie stolperte.
Das plötzliche Licht blendete Will. Er hob schützend den Arm vors Gesicht und Jacob schlug ihm den Säbel aus der Hand.
»Lass den Säbel liegen, Will!«
Er richtete die Pistole auf ihn. Will bückte sich trotzdem. Jacob versuchte, ihm den Säbel aus der Hand zu treten, doch diesmal war sein Bruder schneller. Er wird dich töten, Jacob'. Schießt Aber er konnte nicht. Es war immer noch dasselbe Gesicht, auch wenn es aus Jade war.
»Will, ich bin es!«
Will stieß ihm den Kopf ins Gesicht. Das Blut lief Jacob aus der Nase, und er schlug den Säbel seines Bruders nur mit knapper Not zur Seite, bevor ihm die Klinge die Brust aufschlitzte. Wills nächster Hieb schnitt ihm den Unterarm auf. Er kämpfte wie ein Goyl, ohne zu zögern, kalt und präzise, jede Furcht gelöscht von ihrem Zorn. »Ich habe gehört, dass du Kami'ens besten Leibwächter entwaffnet hast.«
»Er ist nicht so gut, wie er denkt.« Noch ein Hieb. Wehr dich, Jacob.
Klinge auf Klinge, geschliffenes Metall statt der Spielzeugwaffen, mit denen sie sich als Kinder geschlagen hatten. So lange her. Über ihnen fing sich das Sonnenlicht in den Glasblüten eines Kronleuchters, und der Teppich trug das Muster der Hexen, auf dem sie den Frühling herbei tanzten. Will rang nach Atem. Sie keuchten beide so laut, dass sie die kaiserlichen Garden erst bemerkten, als sie die langen Flinten auf sie richteten. Will wich vor den weißen Uniformen zurück, und Jacob stellte sich unwillkürlich schützend vor ihn, so wie er es immer getan hatte. Aber sein Bruder brauchte seine Hilfe nicht. Auch die Goyl hatten sie gefunden. Sie kamen aus der getarnten Tür. Graue Uniformen hinter ihnen, weiße vor ihnen. Will senkte den Säbel erst, als einer der Goyl ihm mit scharfer Stimme den Befehl gab.
Brüder.
»Dieser Mann hat versucht, in die Gemächer des Königs einzudringen!«
Ihr Offizier war ein Onyxgoyl und beherrschte die Sprache des Kaiserreichs fast akzentfrei. Will ließ Jacob nicht aus den Augen, während er an seine Seite trat. Immer noch dasselbe Gesicht, und doch so wenig das seines Bruders, wie ein Hund einem Wolf glich. Jacob wandte ihm den Rücken zu. Er ertrug es nicht mehr, ihn anzusehen.
»Jacob Reckless.« Er hielt den Garden den Säbel hin. »Ich muss mit der Kaiserin sprechen.«
Der Gardist, der den Säbel entgegennahm, raunte dem Offizier etwas zu. Vielleicht hing auf irgendeinem Korridor noch das Porträt, das die Kaiserin von Jacob hatte malen lassen, nachdem er ihr den Gläsernen Schuh gebracht hatte.
Will blickte Jacob nach, als die Garden ihn abführten. Vergiss, dass du einen Bruder hattest, Jacob. Er hat es auch vergessen.
44
DIE KAISERIN
Es war lange her, dass Jacob im Audienzsaal der Kaiserin gestanden hatte. Selbst wenn er oder Chanute etwas abgeliefert hatten, wonach sie seit Jahren suchen ließ, war es meist nur einer ihrer Zwerge gewesen, der die Bezahlung ausgehandelt oder ihnen einen neuen Auftrag erteilt hatte. Die Kaiserin gewährte bloß dann eine persönliche Audienz, wenn die Aufgabe sich, wie beim Gläsernen Schuh oder dem Tischleindeckdich, als besonders gefährlich herausgestellt hatte und die Geschichte, die man ihr erzählen konnte, ausreichend Blut und Todesangst enthielt. Therese von Austrien hätte eine gute Schatzjägerin abgegeben, wäre sie nicht als Tochter eines Kaisers geboren worden.
Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, als die Garden Jacob hereinbrachten. Die Seide ihres Kleides war bestickt mit Elfenglas und es war ebenso goldgelb wie die Rosen auf ihrem Schreibtisch. Ihre Schönheit war Legende, doch Krieg und Niederlage hatten sich ihr ins Gesicht geschrieben. Die Linien auf der Stirn waren schärfer, die Schatten unter den Augen dunkler, und ihr Blick war noch etwas kühler geworden.
Einer ihrer Generäle und drei Minister standen vor den Fenstern, durch die man auf die Dächer und Türme der Stadt blickte und auf die Berge, die die Goyl bereits erobert hatten. Den Adjutanten, der neben der Büste des vorletzten Kaisers lehnte, erkannte Jacob erst, als er sich umwandte. Donnersmarck. Er hatte Jacob auf drei Expeditionen für die Kaiserin begleitet. Zwei davon waren erfolgreich gewesen und hatten Jacob sehr viel Geld und Donnersmarck einen Orden eingebracht. Sie waren Freunde, aber der Blick, den er Jacob zuwarf, verriet nichts davon. An seiner weißen Uniform steckten ein paar Orden mehr als bei ihrer letzten Begegnung, und als er zu dem General trat, sah Jacob, dass er das linke Bein nachzog. Verglichen mit dem Krieg war die Schatzsuche ein harmloses Vergnügen.
»Unerlaubtes Eindringen in den Palast. Bedrohung meiner Gäste. Einen meiner Spione bewusstlos geschlagen.« Die Kaiserin legte den Federhalter zur Seite und winkte den Zwerg zu sich, der neben ihrem Schreibtisch stand. Er ließ Jacob nicht aus den Augen, während er ihr den Stuhl zurückzog. Die Zwerge der austrischen Kaiser hatten im Lauf der Jahrhunderte schon mehr als ein Dutzend Mordanschläge verhindert, und Therese von Austrien hatte mindestens drei von ihnen stets an ihrer Seite. Angeblich nahmen sie es sogar mit Rieslingen auf.
Auberon, der Favorit der Kaiserin, zupfte ihr das Kleid zurecht, bevor sie hinter dem Schreibtisch hervortrat. Sie war immer noch schlank wie ein junges Mädchen.
»Was soll das, Jacob? Hattest du nicht den Auftrag, ein Stundenglas zu finden? Stattdessen duellierst du dich in meinem Palast mit dem Leibwächter meines künftigen Schwiegersohns.«
Jacob beugte den Kopf. Sie mochte es nicht, wenn man ihr in die Augen sah. »Ich hatte keine Wahl. Er hat mich angegriffen und ich habe mich gewehrt.« Sein Unterarm blutete immer noch. Die neue Handschrift seines Bruders.
»Liefert ihn aus, Euer Majestät«, sagte einer der Minister. »Oder noch besser: Lasst ihn erschießen, um Euren Friedenswillen zu beweisen.«
»Unsinn«, erwiderte die Kaiserin gereizt. »Als ob mich dieser Krieg nicht schon genug gekostet hat. Er ist der beste Schatzsucher, den ich habe! Er ist sogar besser als Chanute.«
Sie trat so dicht an Jacob heran, dass er ihr Parfüm roch. Angeblich ließ sie Zaubermohn hineinmischen. Wer den Duft allzu tief einatmete, tat, was immer man verlangte - und hielt es für den eigenen Entschluss.
»Hat dich jemand bezahlt?«, fragte sie. »Jemand, dem dieser Frieden nicht gefällt? Richte ihm etwas aus: Mir gefällt er auch nicht.«
»Majestät!« Die Minister blickten so alarmiert zur Tür, als lauschten die Goyl daran.
»Oh, seid still!«, fuhr die Kaiserin sie an. »Ich bezahle mit meiner Tochter für diesen Frieden.«
Jacob blickte zu Donnersmarck, aber der mied seinen Blick.
»Es hat mich niemand bezahlt«, sagte er. »Und es hat nichts mit Eurem Frieden zu tun. Ich bin wegen der Fee hier.«
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