»Lolla-Wossiky!« rief Ta-Kumsaw. Dann weinte er und kniete zu Füßen seines Bruders nieder, umklammerte seine Knie. All der Schmerz, all das Leid brach aus ihm hervor, während ihm Lolla-Wossiky, genannt Tenskwa-Tawa, der Prophet, ein Lied der Trauer vorsang, ein Lied, das vom Tod der Bienen handelte.
Die Stadt hatte sich verändert. Als Alvin auf Vigor Church zukam, sah er, daß man dort neue Gebäude errichtet hatte. Inzwischen lebten die Bewohner recht eng zusammen, und Vigor Church war zu einer richtigen Stadt geworden. Doch niemand grüßte ihn auf der Straße, und selbst die Kinder, die auf der Gemeindewiese spielten, hatten kein Wort für ihn übrig. Zweifellos hatten ihre Eltern ihnen beigebracht, keinen Fremden willkommen zu heißen; vielleicht waren sie es aber auch nur müde, mitanhören zu müssen, wie ihre Väter und älteren Brüder jedem Fremden, der hier zu Besuch kam, ihre schreckliche Geschichte erzählten.
Und auch Alvin hatte sich verändert. Er war größer geworden, er bewegte sich anders, eher wie ein Roter, der nicht an die Wege des Weißen gewöhnt war. Vielleicht bin ich selbst hier inzwischen auch ein Fremder. Vielleicht habe ich im letzten Jahr zuviel mitangesehen und zuviel getan, um noch länger Alvin Junior zu sein.
Dennoch kannte Alvin den Weg. Noch immer führten Brücken über jeden kleinen Bach auf dem Weg zum Hause seines Vaters. Alvin versuchte das Gefühl von früher wachzurufen, den Zorn zu spüren, den das Wasser gegen ihn hegte. Doch das finstere Böse, das einst sein Feind gewesen war, erkannte ihn kaum, nun, da er dahinschritt wie ein Roter, völlig eins mit der lebendigen Welt. Das macht nichts, dachte Alvin. Wenn das Land zahm geworden und gebrochen ist, wird mein Schritt wieder der eines Weißen sein, dann wird der Entmacher mich schon wieder aufspüren.
Cally stand auf der Veranda. Er war es, der losschrie, der ihn sofort wiedererkannte.
»Alvin! Ally! Alvin Junior! Er ist wieder da! Du bist wieder da!«
Der erste, der auf seinen Ruf herbeistürzte und mit aufgekrempelten Ärmeln und einer Axt in der Hand, war Measure. Sobald er sah, daß es wirklich Alvin war, ließ er die Axt fallen und nahm Alvin Junior bei den Schultern, musterte ihn von oben bis unten, um sich zu überzeugen, daß er nicht zu Schaden gekommen war. Und auch Alvin suchte Narben an Measure. Es waren keine zu sehen, alles war richtig verheilt. Doch Measure entdeckte einige tiefere Wunden in Alvins Inneren, und sanft sagte er: »Du bist älter geworden, Al.« Darauf wußte Alvin nichts zu antworten, und eine Weile blickten sie einander nur in die Augen, und jeder wußte, daß kein anderer weißer Mann jemals verstehen würde, was sie wußten.
Dann trat Ma auf die Veranda, und Pa kam aus der Mühle zum Haus hinüber, und nun gab es Umarmungen und Küsse, Gelächter und Rufe, Tränen und Schweigen. Sie schlachteten zwar nicht das gemästete Kalb, doch dafür gab es immerhin ein Ferkel. Cally rannte zu den Farmen der Brüder und in Brustwehr-Gottes Geschäft und berichtete, was geschehen war, und schon bald hatte sich die ganze Familie versammelt, um Alvin Junior zu begrüßen. Sie hatten zwar gewußt, daß er nicht tot war, hatten aber schon jede Hoffnung verloren, ihn jemals wiederzusehen.
Und dann, als es spät wurde, vergrub Pa die Hände in seinen Taschen, und die anderen Männer und Frauen verstummten, bis Alvin nickte und sagte: »Ich weiß, welche Geschichte ihr erzählen müßt. Also erzählt sie mir jetzt, ihr alle, und dann werde ich euch davon erzählen, welche Rolle ich darin spielte.«
Sie taten es, und er tat es, und dann flossen noch mehr Tränen, diesmal jedoch waren es Tränen der Trauer und nicht der Freude. Dieses Wobbish-Tal war das einzige Zuhause, was sie jetzt noch kennenlernen würden; es war die einzige Möglichkeit, das Leben zu ertragen; so war es für alle Menschen, die den Mord am Tippy-Canoe begangen hatten. Es war recht so, daß sie zusammenblieben und keine Fremden sahen. Wohin hätten sie auch noch gehen und in Frieden leben können, nach dem, was sie allen, die zu ihnen kamen, erzählen mußten? »Wir müssen also bleiben, Al Junior. Aber du und Cally nicht. Und vielleicht können wir immer noch an deine Lehre denken, was meinst du?«
»Darüber können wir auch später noch nachdenken«, warf Ma ein. »Er ist wieder zu Hause, und das genügt erst mal. Dankt dem Herrn, daß er mich nicht zur Prophetin gemacht hat, als ich verkündete, daß ich meinen lieben kleinen Alvin nie wiedersehen würde.«
Alvin sagte seiner Mutter nicht, daß ihre Prophezeiung doch wahr geworden war. Daß es nicht ihr lieber kleiner Alvin war, der nach Hause zurückgekehrt war. Das sollte sie schon selbst herausfinden.
In der Nacht, als er in seinem Bett lag, lauschte Alvin dem fernen Grüngesang, der immer noch warm war und schön, immer noch fröhlich und hoffnungsfroh, obwohl der Wald so spärlich wurde, obwohl die Zukunft so düster aussah. Denn im Gesang des Lebens war keine Furcht vor der Zukunft, sondern nur die immerfrohe Gegenwart. Das ist alles, was ich jetzt haben will, dachte Alvin. Die Gegenwart. Die ist mir schon gut genug.
ENDE
Orson Scott Card
Der rote Prophet
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ralph Tegtmeier
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Fantasy
Band 20123
Erste Auflage: Juni 1989
© Copyright 1988 by Orson Scott Card
All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1989
Scan by Brrazo 05/2005
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach
Originaltitel: Red Prophet
Lektorat: Reinhard Rohn
Titelillustration: Dennis Nolan
Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg
Satz: Fotosatz Schell, Bad Iburg
Druck und Verarbeitung:
Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich
Printed in France
ISBN 3-404-20123-X
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.