Richard, in Gedanken, nickte. Dann sah er auf. »Also gut, überzeugen wir uns selbst.«
Unter dem Geklirr ihrer Waffen und Rüstungen folgten die Soldaten den überraschenden Besuchern durch den Flur aus poliertem Granit, bis sie vor eine massive, mit Gold beschlagene Eichentür gelangten. Ohne abzuwarten, ob jemand anders dies übernahm, riss Richard einen der schweren Türflügel auf und trat in den Raum hinein. Die Gardisten blieben an der Tür zurück. Dies war offenkundig geweihter Boden, ein allein dem Herrscher des Palasts vorbehaltenes Heiligtum, in das keiner von ihnen jemals ohne ausdrückliche Aufforderung des Lord Rahl einen Fuß setzen würde. Und Richard dachte nicht daran; stattdessen stürzte er allein los.
Obwohl hundemüde, eilte Nicci ihm hinterher, als er einen zwischen mehreren Blumenbeeten hindurchführenden Pfad entlanghastete. Durch das verglaste Dach konnte sie sehen, dass der Himmel eine dunklere, violette Färbung angenommen hatte, demnach war es also Abend und nicht etwa die Morgendämmerung. Wie Richard auch schenkte Nicci den mit Schlingpflanzen überwucherten Wänden, den Bäumen sowie all den anderen Gewächsen, die ringsumher gediehen, kaum Beachtung. Gewiss, der Garten war ein Ort von verschwenderischer Pracht, dennoch war ihr Blick fest auf den steinernen Altar geheftet, den sie in der Ferne sah. Was sie nicht sah, waren die drei Kästchen, die eigentlich dort stehen sollten, stattdessen stand auf der Granitplatte jetzt ein anderer Gegenstand. Sie konnte allerdings nicht erkennen, was es war. Richard dagegen, nach dem hektischen Heben und Senken seiner Brust zu urteilen, schien sehr wohl zu wissen, was dort stand.
Sie überquerten eine kreisrunde Rasenfläche, an die sich ein Streifen nackten Erdbodens anschloss. Auf dem erdigen Streifen stockte Richard plötzlich mitten im Schritt und starrte hinunter auf den Boden. »Was ist denn, Lord Rahl?«, rief Cara.
»Das sind ihre Fußspuren«, sagte er leise. »Ich erkenne sie wieder. Sie sind nicht mittels Magie verwischt worden; sie war allein hier.« Er deutete auf den Boden. »Es sind jeweils zwei Reihen, demnach muss sie also zweimal hier gewesen sein.« Mit den Augen einer für sie unsichtbaren Spur folgend, wandte er sich herum zur Rasenfläche. »Und dort drüben, im Gras, hat sie offenbar auf den Knien gelegen.«
Er setzte sich wieder in Bewegung und legte den Rest der Strecke zu dem steinernen Altar laufend zurück. Sofort verfielen auch Nicci und Cara in Laufschritt, um mit ihm Schritt zu halten. Als sie bei der Granitplatte anlangten, erkannte schließlich auch Nicci den Gegenstand, der einsam und alleine dort stand.
Es war die Statue ebenjener Frau, die, in Marmor gemeißelt, auf dem Platz der Freiheit in Akur’Rang stand, das ursprüngliche Exemplar, von Richard eigenhändig angefertigt, wie er ihnen erklärt hatte, ebenjene Statuette, die nach seinen Worten Kahlan gehörte. Nicci sah sofort, dass sie über und über mit blutigen Handabdrücken bedeckt war.
Mit zitternden Fingern nahm Richard die hölzerne, geschnitzte Figur an sich, presste sie an seine Brust und musste ein Schluchzen unterdrücken. Einen Moment lang glaubte Nicci, er würde zusammenbrechen, doch das tat er nicht.
Irgendwann später dann wandte er sich mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihnen herum und hielt den beiden die Statuette dieser stolzen Figur mit dem zurückgeworfenen Kopf und den geballten Fäusten vors Gesicht. »Dies ist die Statuette, die ich für Kahlan geschnitzt habe, die Statuette mit dem Titel Seele. Die Statuette, die sich, wie ich Euch erklärt habe, nicht in Akur’Rang befinden konnte, weil sie sie bei sich hatte. Wenn man von dieser Statuette unten in Akur’Rang, in der Alten Welt, eine Kopie aus Stein angefertigt hat, wie ist sie dann hierher gekommen?«
Nicci starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und versuchte sich mit dem, was sie sah, anzufreunden. Der Widerspruch erschien ihr unauflösbar, unbegreiflich. Sie fühlte sich an Richards hilflose Versuche erinnert, zu begreifen, was er in der Grabstätte gesehen hatte, in der die Mutter Konfessor beerdigt lag. Jetzt wusste sie, wie ihm dabei zumute gewesen sein musste.
»Ich begreife nicht, wie sie hierher gelangt sein kann.« »Indem Kahlan sie hier zurückgelassen hat! Sie hat sie hier zurückgelassen, damit ich sie finde. Sie war es, die die Kästchen der Ordnung für die Schwestern gestohlen hat! Begreift Ihr nicht? Erkennt Ihr die Wahrheit nicht einmal, wenn Ihr mit der Nase draufgestoßen werdet?«
Unfähig, noch ein weiteres Wort zu sagen, presste er die Statuette erneut an seine Brust, als wäre sie sein wertvollster Besitz auf dieser Welt.
In diesem Augenblick, als sie ihn am ganzen Körper vor Schmerz erzittern sah, fragte sie sich, wie es wohl sein mochte, von ihm geliebt zu werden – und bei aller Verwirrtheit, trotz der Traurigkeit über das, was sie hier vor sich sah, und der Schmerzen, unter denen er so offenkundig litt, empfand sie gleichzeitig ein Gefühl der Freude, der Freude darüber, dass Richard einen Menschen hatte, der ihm so viel bedeutete, der in ihm solche Gefühle auszulösen vermochte ... selbst wenn dieser Mensch nur in seiner Fantasie existierte. Nicci war noch immer nicht überzeugt, dass sie real war.
»Versteht Ihr jetzt? Begreift Ihr beide jetzt endlich?«
Cara, die so bestürzt aussah, wie Nicci sich fühlte, schüttelte den Kopf. »Nein, Lord Rahl, ich begreife es nicht.«
Er hielt die kleine Statuette in die Höhe. »Kein Mensch erinnert sich an sie. Wahrscheinlich ist sie geradewegs an diesen Soldaten vorbeigelaufen, und sie haben sie ebenso vergessen wie Ihr, all die unzähligen Male, die Ihr Kahlan schon begegnet seid. Sie ist ganz auf sich gestellt, sie befindet sich in der Gewalt dieser vier Schwestern, die sie gezwungen haben, hierher zu kommen und die Kästchen zu beschaffen. Seht Ihr, wie blutverschmiert sie ist – mit ihrem Blut? Das sollte Euch zu denken geben. Könnt Ihr Euch überhaupt vorstellen, wie ihr zumute sein muss, ganz allein, von aller Welt vergessen? Wahrscheinlich hat sie sie in der Hoffnung hier stehen lassen, dass irgendjemand sie entdeckt und weiß, dass es sie gibt.«
Er hielt sie erst Cara, dann Nicci vors Gesicht. »Seht sie Euch doch an! Sie ist voller Blut! Auf dem Altar ist Blut, ebenso auf der Erde. Dort drüben sind ihre Fußspuren. Was glaubt Ihr wohl, wie die Kästchen verschwunden sind und dies hierher gekommen ist? Sie muss hier gewesen sein.«
In dem Innengarten war es totenstill. Nicci war so perplex, dass sie nicht mehr wusste, was sie noch glauben sollte. Natürlich war ihr klar, was sie vor sich sah, und doch schien es völlig unmöglich. »Glaubt Ihr mir jetzt?«, wandte er sich an die beiden.
Cara schluckte. »Ich will ja gerne glauben, was Ihr da sagt, Lord Rahl, aber ich erinnere mich trotzdem nicht an sie.«
Als sein raubtierhafter Blick zu Nicci hinüberglitt, musste auch sie unter der durchdringenden Kraft dieses Blickes schlucken.
»Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, Richard. Was du da sagst, ist sicher ein aussagekräftiger Beweis, aber wie Cara bereits sagte, kann auch ich mich einfach nicht an sie erinnern. Tut mir Leid, aber ich kann dich nicht anlügen und dir etwas erzählen, das du hören willst, nur damit du zufrieden bist. Das ist die Wahrheit, ich weiß noch immer nicht, wovon du eigentlich sprichst.«
»Das weiß ich doch«, erwiderte er und wurde plötzlich ruhig, ja geradezu entgegenkommend. »Genau das versuche ich Euch doch zu erklären. Irgendetwas Fürchterliches ist im Schwange. Kein Mensch erinnert sich an sie. Was immer die Ursache dafür sein mag, es muss sich unzweifelhaft um einen mächtigen und überaus gefährlichen Zauber handeln, wie er nur von den mächtigsten Personen erzeugt werden kann, die über beide Seiten der Gabe verfügen. Eine Magie, die so gefährlich ist, dass sie in einem in einer von Schilden gesicherten Katakombe vergrabenen Buch verborgen war, von Zauberern in der Hoffnung dort versteckt, dass kein Mensch es jemals findet.«
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