Der Gedanke, dass diese Bücher einst mit einem Schild gesichert gewesen waren, ließ sein Herz schneller schlagen.
Er drehte sich wieder zu dem Raum herum. Der warme Schein der leuchtenden Glaskugel enthüllte tatsächlich eine Kammer voller Bücher, deren Seitenwände, scheinbar ohne erkennbaren Grund, seltsam verwinkelt waren. Den staunenden Blick auf die unzähligen Bücher gerichtet, schlenderten Richard und Julian durch den Mittelgang. Ganz ähnlich wie in den letzten Ruhestätten der Toten waren auch hier die meisten Regale aus Platzgründen direkt in den massiven Fels hineingetrieben worden. Richard hielt die Kugel in die Höhe und ließ den Blick über die Regale wandern.
»Hör zu«, sagte er zu Julian. »Ich suche etwas ganz Bestimmtes, das den Namen ›Feuerkette‹ trägt. Möglicherweise handelt es sich um ein Buch. Du beginnst auf der einen Seite, ich übernehme die andere. Und achte bitte sorgfältig darauf, dass du dir jeden einzelnen Buchtitel genau ansiehst.«
Julian nickte. »Wenn es hier drin ist, werden wir es auch finden.«
Die gewaltigen Ausmaße der alten Bibliothek hatten etwas Entmutigendes. Zoll für Zoll arbeiteten sie sich voran, bis sie um eine Ecke bogen, wo sie auf eine Reihe von Nebenkammern stießen, die zwar kleiner als der Hauptraum, nichtsdestoweniger aber auch voller Bücher waren. Die Suche ging nur langsam voran, da sie auf gleicher Höhe arbeiten mussten, um beide etwas sehen zu können. Mehrere Stunden arbeiteten sie sich gewissenhaft durch die gesamte Bibliothek. Ab und an mussten sie kurz stehen bleiben, um den Staub von einem Buchrücken zu blasen.
Richard war müde und zunehmend frustriert, bis sie endlich an eine Stelle gelangten, wo er eine weitere Metallplatte entdeckte. Er presste seine Hand dagegen, und sofort geriet die Felswand vor ihnen in Bewegung. Die Tür war nicht groß, und nach einer kurzen Drehung tat sich dahinter tiefste Dunkelheit auf. Er hoffte, dass die Schilde unmittelbar auf das Erkennen seiner Gabe ansprangen und nicht erst dadurch ausgelöst wurden, dass sie seine magischen Kräfte zwangen, auf ein lautloses unmerkliches Signal zu reagieren. Wenn sich die Bestie plötzlich zeigte, wollte er sich wirklich nicht ausgerechnet hier unten in den Katakomben befinden. Richard hielt das Licht in das Dunkel und erblickte eine kleine Kammer voller Bücher. Des Weiteren gab es einen Tisch, der jedoch vor langer Zeit schon unter der Last eines darauf gestürzten Teils der Decke zusammengebrochen war.
Während Julian, voll konzentriert mit dem Finger die Titel entziffernd, an den Buchrücken entlangfuhr, eilte Richard mit fünf großen Schritten zur gegenüberliegenden Wand hinüber, wo er tatsächlich eine weitere Metallplatte entdeckte. Er presste seine Hand darauf.
Langsam schwang eine weitere schmale Tür von ihm fort, hinein in das Dunkel. Er zog den Kopf noch etwas tiefer zwischen die Schultern, trat in die Türöffnung und hielt das Licht ein Stück weit hinein. »Wünschst du zu reisen, Herr?«, schlug ihm eine hallende Stimme entgegen. Er starrte auf einen hellen Lichtpunkt, der vom silbrigen Gesicht der Sliph zurückgeworfen wurde. Es war der Brunnenraum, durch den sie hergekommen waren. Die Türöffnung befand sich genau gegenüber den Treppenstufen, neben denen sie die erste Metallplatte entdeckt hatten, mit der sich die Decke hatte öffnen lassen. Sie hatten den größten Teil der Nacht damit verbracht, im Kreis herumzulaufen, nur um letztendlich wieder dort zu landen, wo sie angefangen hatten.
»Seht mal, was ich hier habe, Richard.«
Richard drehte sich zu Julian herum und sah sich dem roten Ledereinband eines Buches gegenüber, das sie ihm vor die Nase hielt.
Es trug den Titel Feuerkette.
Richard war so verblüfft, dass er kein Wort hervorbrachte.
Julian folgte ihm, breit grinsend über ihren Fund, in den Raum der Sliph, als er diesen rückwärts gehend betrat und ihr das Buch dabei aus den Händen nahm.
Ihm war, als hätte er seinen Körper verlassen und betrachtete sich selbst, in den Händen das Buch mit dem Titel Feuerkette.
»Richard?« Es war Niccis Stimme.
Immer noch verdutzt, dass er tatsächlich eine Schrift mit dem Titel Feuerkette gefunden hatte, ging er hinüber zu den Treppenstufen und schaute hoch. Im ersten Licht der Morgendämmerung zeichneten sich dort die Umrisse von Nicci und Cara ab, die zu ihm herabblickten.
»Ich habe es gefunden, das heißt, genau genommen hat Julian es gefunden.«
»Wie in aller Welt seid ihr da hinunter gekommen?«, wollte Nicci wissen, als Richard und Julian sich anschickten, die Stufen hinaufzusteigen.
»Julian?«, rief eine Männerstimme.
»Großvater!« Julian flitzte die restlichen Stufen hinauf und warf sich dem alten Mann in die Arme. Richard stieg hinter ihr die Stufen hinauf, auf deren oberster sich Nicci niedergelassen hatte. »Das ist Julians Großvater«, stellte Nicci ihn mit einer Handbewegung vor. »Er ist der Erzähler dieser Leute, und obendrein der Hüter des alten Wissens.«
»Freut mich, Euch kennen zu lernen«, sagte Richard und ergriff die Hand des alten Mannes mit beiden Händen. »Ihr habt eine erstaunliche Enkeltochter. Sie war mir eine ungeheuer große Hilfe.«
»Ihr hättet es bestimmt auch gefunden, ich hab es bloß zuerst gesehen«, sagte Julian, ein Strahlen im Gesicht. Richard erwiderte das Lächeln, dann wandte er sich an Nicci. »Was ist aus Jagangs Männern geworden?«
Die zuckte nur mit den Achseln. »Ein nächtlicher Nebel hat sie überrascht.«
Während sich Julian an der Seite ihres Großvaters entfernte, um den auf einer nahen Mauer hockenden Raben zu begrüßen, wandte sich Richard in vertraulichem Ton an Nicci und Cara. »Ein Nebel?«
»Ja.« Nicci verschränkte die Finger um ein Knie. »Sie gerieten in eine Art seltsamen, rauchigen Nebel, der sie erblinden ließ.«
»Nicht nur erblinden«, setzte Cara mit unverhohlener Schadenfreude hinzu, »er hat ihnen die Augen in den Höhlen platzen lassen. Es war ein einziges blutiges Chaos. Ganz nach meinem Geschmack.«
Richard sah Nicci stirnrunzelnd an und wartete auf eine Erklärung. »Es sind Späher«, erklärte sie. »Ich kenne diese Männer, und sie kennen mich, deshalb wollte ich nicht, dass sie mich sehen. Vor allem aber wollte ich, dass sie für Jagang wertlos sind – auch die, die überlebt haben. Nach dem, was Julians Großvater mir sagte, hegt er Zweifel, ob es viele von ihnen wieder zurück bis zu Jagangs Truppen schaffen werden; trotzdem habe ich darauf geachtet, dass sie in der Nähe ihrer Pferde waren, damit die Tiere sie ins Lager zurücktragen können. Ich will, dass die Überlebenden dieser grauenhaften Quälerei nichts anderes zu berichten wissen, als dass plötzlich ein Nebel von den Bergen herabgezogen kam – und sie in einem fremden, abweisenden und von Geistern heimgesuchten Land geblendet wurden. Solche Neuigkeiten dürften seine Männer in Angst und Schrecken versetzen. Es mag für Jagangs Armee ein prächtiges Vergnügen sein, hilflose Menschen zu vergewaltigen, auszurauben und abzuschlachten, aber Vorfälle wie diese mögen sie überhaupt nicht. In einer grandiosen Schlacht im Namen des Schöpfers ums Leben zu kommen und anschließend im Leben nach dem Tod seinen Lohn zu erhalten ist eine Sache, etwas völlig anderes aber ist es, von etwas übermannt zu werden, das für einen unsichtbar aus dem Dunkel kommt und einen derart hilflos macht.
Ich gehe davon aus, dass Jagang sich eher entschließen wird, dieses Land zu umgehen, als zuzulassen, dass eine unbekannte Gefahr seine Männer so sehr in Angst und Schrecken versetzt und sie es sich womöglich zweimal überlegen lässt, ob sie auch weiterhin zum Ruhm des Schöpfers und der Imperialen Ordnung kämpfen wollen –as bedeuten würde, dass sich ihr Vormarsch Richtung Süden um eine beträchtliche Strecke verlängert. Dadurch wiederum dürfte sich auch ihr Schwenk hinein nach D’Hara verzögern.«
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