Nathan blinzelte. »Gut. Ich mache eine Dreierbeschwörung und behalte die Sache im Auge.«
»Ich muss zurück. Später werde ich wieder vorbeischauen, einfach nur um zu erfahren, ob es Nachricht von Richard gibt und wie der Orden draußen vorankommt.«
»Sagt Zedd, ich habe hier alles im Griff und den Feind umzingelt.«
Nicci lächelte. »Ich werde es ihm ausrichten.«
Auf dem Weg durch die riesigen Hallen des Palastes, begleitet von Cara, hing Nicci ihren Gedanken nach. Sie war unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. An allen Ecken und Kanten gab es dringliche Probleme. Die meisten erschienen vage und unbestimmt. Außerdem hatte sie niemanden, mit dem sie über das sprechen konnte, was ihr durch den Kopf ging. Zedd stellte eine gewisse Hilfe dar, mit Cara konnte sie dagegen über andere Dinge gut reden.
Aber Richard war der Einzige, der nachvollziehen konnte, wie sie mittlerweile die grundlegenden Punkte verstand. Eigentlich war es auch Richard gewesen, der sie in das Konzept der kreativen Magie eingeführt hatte. Sie erinnerte sich sehr gut an die Unterhaltung, die sie eines Nachts mit ihm im Lager geführt hatte. Es war einer dieser unvergesslichen Momente mit Richard gewesen.
Zudem musste Richard bestimmte Dinge wissen. Da waren beunruhigende Ereignisse, die mit ihm und den Kästchen der Ordnung zusammenhingen. Gewissermaßen hatte er Feuer unter Zutaten entzündet, die nicht nur gefährlich waren, sondern die zu brodeln und kochen begannen und sich möglicherweise auf äußerst heimtückische Weise verbanden, wenn man nicht dagegen einschritt. Dazu gehörten auch Prophezeiungen, die zu verstehen sie sich nicht zutraute, da sie keine Prophetin war. Andere Prophezeiungen glaubte sie sehr wohl zu begreifen und konnte nicht umhin, sie in ihre Überlegungen mit einzubeziehen.
Hauptsächlich ging es um diese Prophezeiung, die lautete: »Im Jahr der Zikaden« - welches das gegenwärtige Jahr war - »wenn der Vorkämpfer für Selbstaufopferung und Leid unter dem Banner der Menschheit und des Lichts endlich seinen Schwärm teilt« - was Jagang getan hatte -, »soll dies als Zeichen dafür dienen, dass die Prophezeiung zum Leben erweckt worden ist und uns die letzte und entscheidende Schlacht bevorsteht. Seid gewarnt, denn alle wahren Gabelungen und ihre Ableitungen sind in dieser seherischen Wurzel miteinander verknüpft. Ein einziger Hauptstrang nur zweigt von dieser Verknüpfung der allerersten Ursprünge ab.« Diese Zeit, in der es um alles oder nichts, Erfolg oder Scheitern ging, war gekommen, dieser Wendepunkt, der ein für alle Mal die Richtung für die Zukunft festlegen würde. »Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, dann wird die Welt, bereits jetzt am Abgrund ewiger Finsternis, unter ebendiesen fürchterlichen Schatten fallen.«
Diese Prophezeiung, das erkannte sie nun langsam, bezog sich auf die Kästchen der Ordnung, aber es wollte sich ihr nicht erschließen, wie. Gelegentlich hatte sie das Gefühl, kurz davor zu stehen, aber irgendwie entzog es sich ihr immer wieder. Knapp unter der Oberfläche dieser Prophezeiung gab es etwas, das der Schlüssel sein musste.
Zur gleichen Zeit spürte sie, dass die Ereignisse unaufhaltsam in Gang gekommen waren, und sie musste etwas unternehmen, damit sie nicht außer Kontrolle gerieten. Mit jedem Tag, der verstrich, schwanden ihre Möglichkeiten. Die Schwestern der Finsternis hatten die Kästchen ins Spiel gebracht und ihnen so die Möglichkeit genommen, sie ihrem Zweck gemäß einzusetzen: als Mittel gegen den Feuerkettenbann. Da der Feuerkettenbann durch die Chimären verunreinigt war, ging ihnen mehr und mehr die Fähigkeit verloren, ihre Gabe einzusetzen und so den Schaden zu beheben. Es ließ sich nicht sagen, wie lange sie überhaupt noch ausreichende Kontrolle über ihre Gabe hätten, und die wiederum war notwendig, um die Hindernisse zu überwinden, vor denen sie standen. Gleichzeitig hatte Das Buch des Lebens eine Bedeutung für sie bekommen, die sie sich niemals vorgestellt hätte. Sie hatte auch mehrere eher unbekannte Bücher gelesen, die Zedd für sie zum Thema Theorie der Ordnung gefunden hatte. Auch die hatten ihr Verständnis vertieft, nur um im Anschluss umso größere Fragen aufzuwerfen.
Erschrocken blieb Nicci stehen und sah auf. »Was war das?«
»Die Glocke zur Andacht«, sagte Cara, verwirrt über Niccis Reaktion.
Nicci schaute zu, wie sich Menschen auf einem nahen Platz mit einem Wasserbecken in der Mitte zu versammeln begannen. Das Becken, mit einem großen dunklen, nicht ganz mittig platzierten Felsen darin, war zum Himmel hin offen.
»Vielleicht sollten auch wir zur Andacht gehen«, sagte Cara.
»Manchmal hilft das, wenn man Sorgen hat, und Ihr habt eindeutig Sorgen.«
Nicci sah die Mord-Sith stirnrunzelnd an und fragte sie, woher sie über die Sorgen Bescheid wusste. Vermutlich sah man es ihr deutlich an.
»Ich habe keine Zeit für die Andacht«, sagte Nicci. »Ich muss zurück und dieses Problem lösen.«
Cara wirkte nicht so, als hielte sie das für eine gute Idee. Sie zeigte auf den Platz.
»An Lord Rahl zu denken könnte helfen.«
»An Nathan zu denken hilft mir überhaupt nicht. Mir ist es gleichgültig, ob alle in Nathan den Lord Rahl sehen. Richard ist der Lord Rahl.«
Cara lächelte. »Ich weiß. Das habe ich doch gemeint.« Sie nahm Nicci am Arm und zog sie zu dem Becken. »Kommt.«
Nicci starrte die Frau an, während sie sich mitziehen ließ, und sagte:
»Na, wahrscheinlich schadet es nicht, eine Weile innezuhalten und an Richard zu denken.«
Cara nickte und sah in diesem Augenblick sehr weise aus. Die Menschen machten der Mord-Sith respektvoll Platz, als sie zu einer Stelle nahe am Wasserbecken ging. Nicci bemerkte Fische, die durch das dunkle Wasser glitten. Ehe sie sich’s versah, kniete sie neben Cara und drückte die Stirn auf den Boden.
»Führe uns, Meister Rahl«, begannen die Leute wie mit einer Stimme zu intonieren. »Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns,
Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Nicci gesellte sich mit ihrer Stimme zu den anderen, und der Sprechgesang erfüllte die Hallen. Die Worte »Meister Rahl« und Richard waren für sie untrennbar verbunden. Sie bedeuteten das Gleiche.
Fast gegen ihren Willen beruhigten sich Niccis aufgebrachte Gedanken, als sie leise die Worte mit den anderen Anwesenden sprach.
»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Sie verlor sich in den Worten. Die Sonne schien ihr warm auf den Rücken. Der nächste Tag würde der erste des Winters sein, doch in Lord Rahls Palast war es warm, ganz so wie im Garten des Lebens. Es erschien ihr eigenartig, dass Darken Rahl und vor ihm sein Vater, Panis, die auch Lord Rahl gewesen waren, diesen Ort in einen Hort des Bösen verwandelt hatten.
Allerdings war dieser Ort eben auch nur ein Ort. Der Mensch war es, auf den es ankam. Der Mensch machte den Unterschied. Der Mensch gab die Richtung vor, der die anderen folgten, zu Recht oder zu Unrecht. In gewisser Weise war die Andacht die formale Anerkennung dieser Auffassung.
»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Die Worte hallten in Niccis Kopf wider. Sie vermisste Richard so sehr. Obwohl sein Herz einer anderen gehörte, vermisste sie ihn, sein Lächeln, die Gespräche mit ihm. Wenn das alles war, was sie je bekommen würde, war es genug, um ihr Kraft zu geben. Nur seine Freundschaft - er wertvoll für sie, sie wertvoll für ihn. Einfach Richard, der lebte, der glücklich war, der ... Richard war.
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