»Sieht tatsächlich so aus, als könnte es Kaiser Jagang sein«, meinte er zu Johnrock.
Der Kaiser schaute in die andere Richtung und beobachtete einige der anderen aus Soldaten der Imperialen Ordnung zusammengestellten Ja’La-Mannschaften. Diese waren natürlich nicht in auf Wagen befestigte Eisenkäfige gesperrt; vielmehr marschierten sie stolz in Reih und Glied und trugen die Wimpel ihrer Mannschaft.
Und dann sah er sie.
»Kahlan!«
Sie drehte sich in die Richtung, aus der seine Stimme gekommen war. Richard packte die Gitterstäbe so fest, dass sie sich fast bogen. Trotz der geringen Entfernung hatte sie ihn bei all dem Lärm wahrscheinlich gar nicht hören können. Ringsumher bejubelten Männer den Einmarsch der Mannschaften.
Ihr langes Haar fiel in unordentlichen Strähnen über ihren Umhang. Richards Herz hämmerte so heftig in seiner Brust, dass er glaubte, es würde explodieren.
»Kahlan!«
Sie drehte sich ein wenig mehr in seine Richtung.
Und dann begegneten sich ihre Blicke; er starrte geradewegs in ihre grünen Augen.
Doch als Jagang Anstalten machte, sich herumzudrehen, sah sie augenblicklich fort und schaute in die Richtung, der sein Interesse gegolten hatte, sodass er sich ebenfalls wieder umwandte. Dann war sie nicht mehr zu sehen; das Durcheinander aus Soldaten und Wagen, Pferden und Zelten verdeckte sie, als sie in der Ferne verschwand.
Richard ließ sich schwer atmend nach hinten gegen die Seitenwand sinken.
Johnrock setzte sich neben ihn. »Was ist, Rüben? Du siehst ja aus, als hättest du mitten unter den Männern ein Phantom gesehen.«
Richard hatte es die Sprache verschlagen. Er keuchte, die Augen weit aufgerissen.
»Das war meine Frau.«
Johnrock lachte verwegen. »Du meinst, du hast die Frau gesehen, die du haben willst, wenn wir gewinnen? Der Kommandant meinte, wenn wir die Mannschaft des Kaisers schlagen, könnten wir uns eine aussuchen. Hast du eine gesehen, die dir gefällt?«
»Sie war es ...«
»Rüben, du siehst aus, als hättest du dich gerade verliebt.«
Richard merkte, dass er über das ganze Gesicht strahlte.
»Sie war es. Sie lebt, Johnrock. Ich wünschte, du hättest sie sehen können. Sie lebt. Sie sieht genauso aus wie früher. Bei den Gütigen Seelen, das war Kahlan. Sie war es.«
»Ich finde, du solltest dich wieder beruhigen, Rüben. Wenn du weiter so hektisch atmest, verlierst du noch das Bewusstsein, ehe wir Gelegenheit haben, ein paar Schädel zu zertrümmern.«
»Wir werden gegen die Mannschaft des Kaisers spielen, Johnrock.«
»Erst mal müssen wir eine ganze Menge Spiele gewinnen, um diese Chance zu bekommen.«
Richard hörte ihn kaum. Er lachte vor Freude und bekam sich fast nicht mehr ein. »Das war sie. Sie lebt.« Richard schlang die Arme um Johnrock und erdrückte ihn fast. »Sie lebt!«
»Ganz wie du meinst, Rüben.«
Bemüht, ihren Atem zu kontrollieren, versuchte Kahlan ihren rasenden Puls zu beruhigen. Sie konnte nicht begreifen, was sie so überwältigt hatte. Der Mann ihm Käfig war ihr unbekannt. Sie hatte sein Gesicht nur für einen Augenblick gesehen, als der Wagen vorüberrollte, doch aus irgendeinem Grund hatte sie der Anblick bis auf den Grund ihrer Seele aufgewühlt.
Als der Mann zum zweiten Mal ihren Namen rief, reagierte Jagang, als hätte er etwas gehört. Sofort hatte Kahlan sich wieder herumgedreht, damit er keinen Verdacht schöpfte. Doch warum ihr das so überaus wichtig erschienen war, wusste sie nicht. Nein, das stimmte nicht. Sie kannte den Grund nur zu gut. Der Mann hatte in einem Käfig gesessen. Da er sie zu kennen schien, hätte Jagang ihm womöglich etwas angetan, ihn vielleicht sogar getötet. Aber es steckte noch mehr dahinter. Offenbar kannte sie der Mann. Er musste irgendwie mit ihrer Vergangenheit in Zusammenhang stehen, jener Vergangenheit, die sie zu vergessen versuchte. Als sie in seine grauen Augen gesehen hatte, hatte sich mit einem Herzschlag alles verändert. Sie wollte nicht mehr, dass ihre Vergangenheit verschüttet blieb. Plötzlich wollte sie alles wissen. Der Ausdruck in den Augen des Mannes hatte etwas so ungeheuer Kraftvolles gehabt, war so voller Lebendigkeit gewesen, dass ihr mit einem Schlag die Bedeutung ihres Lebens klar geworden war. In dem Moment, als sie den Blick in seinen grauen Augen sah, erkannte Kahlan, dass sie wissen musste, wer sie war. Was immer die Folgen waren, egal um welchen Preis, sie musste die Wahrheit wissen. Sie musste ihr Leben zurückerlangen, und dafür gab es nur einen Weg: die Wahrheit.
Jagangs Drohungen mochten eine sehr reale Gefahr darstellen, doch plötzlich war ihr klar geworden, dass die eigentliche Gefahr darin bestand, dass er sie mit seinen Einschüchterungen dazu brachte, ihrem eigenen Leben, ihrem freien Willen, ja ihrer ganzen Existenz abzuschwören ... und sich endgültig seiner Herrschaft auszuliefern. Mit seinen Drohungen versuchte er ihr vorzuschreiben, wie sie zu leben hatte, machte er sie zur Sklavin. Wenn sie sich seinem Willen beugte, dann nur, weil sie den ihren aufgegeben hatte. So durfte sie nicht denken. Darin konnte sich ihr Leben nicht erschöpfen. Sie mochte vielleicht seine Gefangene sein, aber sie war nicht seine Sklavin. Sie war überhaupt niemandes Sklavin. Niemals würde sie sich seinem Willen ergeben. Sie wollte ihr altes Leben zurück. Ihr Leben gehörte ihr allein, und sie würde es sich wiederholen. Nichts, was Jagang tun konnte, nichts, womit er ihr zu drohen versuchte, konnte ihr das länger verwehren.
Kahlan fühlte Freudentränen über ihre Wangen rollen. Der Mann, den sie nicht einmal kannte, hatte ihr soeben den Lebenswillen, ja die Lust am Leben zurückgegeben. Es war, als könnte sie zum allerersten Mal seit ihrem Gedächtnisverlust wieder befreit aufatmen.
Sie wünschte nur, sie könnte ihm dafür danken.
Nicci marschierte durch die riesige Halle im Palast des Volkes und zog Cara, Nathan und eine Schar Wachen hinter sich her. Jedes Mal, wenn jemand Nathan »Lord Rahl« nannte, zuckte sie zusammen. Sie wusste, es war unumgänglich, und trotzdem blieb in ihrem Herzen Richard der einzige Lord Rahl.
Sie hätte alles gegeben, um wieder in seine grauen Augen zu sehen. Im Palast glaubte sie fast, seine Gegenwart zu spüren, was vermutlich an dem Bann lag, um den der Palast errichtet war. Denn der Palast war in Form eines Banns für den Lord Rahl gebaut. Richard war der Lord Rahl. Zumindest für sie.
Gerechterweise musste sie zugeben, dass andere - zum Beispiel Cara - ebenso empfanden. Wenn sie mit Cara allein war, was nicht selten vorkam, herrschte zwischen den beiden ein Einverständnis, das keine Worte brauchte. Beide litten den gleichen Schmerz. Beide wollten Richard zurück.
Cara trat vor und führte sie durch ein Netz kleiner Gänge für die Dienstboten zu einer Eisentreppe, die in einem dunklen Schacht aufstieg. Oben stieß sie eine Tür auf. Sie wurden von kaltem Licht empfangen, als sie den Beobachtungsposten betraten. Hier oben am Rande der Außenmauer, am Rande der Hochebene, stand man wie am Ende der Welt.
Unten erstreckte sich die Armee der Imperialen Ordnung wie ein schwarzer Fleck bis zum fernen Horizont.
»Seht Ihr, was ich meine?«, fragte Nathan und zeigte zu dem Bauwerk in der Ferne. Zunächst war es schwer zu erkennen, doch bald ergab es Sinn.
»Ihr habt recht«, sagte sie. »Es scheint eine Rampe zu sein. Meint Ihr, man kann tatsächlich eine Rampe bis hier oben bauen?«
Nathan schaute einen Augenblick hinaus. »Ich weiß es nicht, aber ich würde sagen, wenn Jagang diese Mühsal auf sich nimmt, dann nur, weil er glaubt, es bewerkstelligen zu können.«
»Falls sie es schaffen, eine derart breite Rampe zu bauen«, sagte Cara, »bedeutet das ziemlichen Ärger.«
»Eher: Es bedeutet unseren ›Tod‹«, warf Nathan ein. Nicci beobachtete die Männer des Ordens und schätzte die Entfernung zu der Baustelle ab. »Nathan, Ihr seid doch ein Rahl. Dieser Ort verstärkt Eure Kraft. Ihr solltet in der Lage sein, Zaubererfeuer hinunterzuschleudern und das Ding in die Luft zu jagen.«
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