»Unmöglich, Herzchen. Ich kann doch meinen König nicht belügen.«
Sie seufzte wiederum. »Sei’s drum. Erinnerst du dich noch an das, was ich damals am Ufer des Sees Elysian gesagt habe, Achmed? Dass ich ein Ziel brauche, eine Chance, etwas zu tun, was denen, die mir nahe stehen, zugute kommt. Dies ist meine Chance. In dieser Angelegenheit bin ich gefordert. Hier ist jetzt mein Zuhause. Ich will, dass es ein sicherer Ort ist, und werde einiges dafür auf mich nehmen. Ich kann den Bolg helfen, und zwar anders, als ihr es könnt. Das ist mir wichtig, nicht bloß für mich, sondern vor allem für sie.«
»Dann geh«, sagte Achmed. »Und nimm Jo mit. Wie lange werdet ihr weg bleiben?«
Rhapsody blinzelte mit den Augen. »Jetzt willst du auf einmal, dass ich gehe?«
Er schnaubte. »Sei nicht albern. Von wollen kann keine Rede sein. Aber du bist ja nicht davon abzubringen. Und ich kenne dich lange genug, um zu wissen, dass ich in diesem Streit den Kürzeren ziehen werde. Du hast deinen Entschluss schon gefasst. Was bleibt mir also anderes übrig, als darauf zu achten, dass du dir einen vernünftigen Plan zurechtlegst und alle nötigen Vorbereitungen triffst? Schließlich sollten wir auch noch eine Frist festlegen. Wenn die abläuft und du bist immer noch nicht zurück, werden wir deine Habseligkeiten untereinander aufteilen, dein Zimmer jemand anders geben und dich aus unserer Erinnerung streichen.«
Rhapsody fuhr sich mit der Hand durchs Haar und versuchte, die plötzliche Kehrtwende nachzuvollziehen. »Na schön«, sagte sie zögernd. »Aber Jo bleibt hier. Sie mitzunehmen ist keine gute Idee.«
»Sie könnte auf dein Gepäck aufpassen und stünde uns hier nicht im Weg.«
»Aber ich will sie nicht in Gefahr bringen, Achmed«, sagte Rhapsody verärgert. »Endlich habe ich’s geschafft, das Mädchen in Sicherheit zu bringen, und du willst, dass ich sie quer über den Kontinent in eine Drachenhöhle scheuche? Nein, da wird nichts draus. Und überhaupt, dass sie ein loses Mundwerk hat und geschwätzig ist, brauche ich dir ja wohl nicht zu sagen. Womöglich verplappert sie sich und erzählt Ashe oder sonst jemandem mehr über unseren Berg, als uns lieb sein könnte.«
»Apropos Ashe«, sagte Grunthor. »Vielleicht solltest du ihn von vornherein warnen. Wenn er dir was antut oder dich nich mehr zu uns zurückkommen lässt, werd ich mich persönlich auf den Weg machen und ihm ein Ende bereiten, das mir einen Ehrenplatz in der Ruhmeshalle der übelsten Folterer aller Zeiten sichert.«
Rhapsody lachte. »Das werde ich ihm ausrichten.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Backe.
Fünf Tage später trat sie mit Ashe die Reise an. Sie war in diesen letzten Tagen sehr viel mit Jo zusammen gewesen, die sich verzweifelt darum bemüht hatte, mitkommen zu dürfen, aber schließlich dann doch überzeugt werden konnte, in Grunthors Obhut zurückzubleiben.
»Soll ich denn nich nur die Gräfin, sondern auch noch meine kleine Kratzbürste verlieren? Oh, bitte nein. Hab ein Herz, Jo. Ich würd mich vor Einsamkeit in die dunkelste Ecke verkriechen und sterben.«
»Die Bitte kannst du ihm einfach nicht abschlagen«, hatte Rhapsody daraufhin gesagt, die Schwester in den Arm genommen und ihr ins Ohr geflüstert: »Und pass auch auf den anderen auf. Er hat’s noch nötiger.«
Im Nachhinein war Rhapsody selbst ins Grübeln geraten. Um Jo zum Nachgeben zu bewegen, hatte sie ganz ähnliche Argumente angeführt wie Achmed und Grunthor bei dem Versuch, ihr, Rhapsody, das Vorhaben auszureden. Diese Einsicht hatte zur Folge, dass sie nun selbst am Sinn und Zweck ihrer Unternehmung zweifelte.
Den letzten Tag hatte sie mit Achmed allein verbracht und ihren Plan in allen Einzelheiten durchgesprochen.
»Gibt es etwas, von dem du ganz und gar nicht willst, dass er’s erfährt?«, fragte sie nach einem stillen Abendessen in seinen Gemächern.
Achmed schaute ihr in die Augen. »Etwas? Alles.« Ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht. »Erzähl ihm, was du willst.«
Rhapsody war überrascht. »Meinst du das ernst?«
»Ja. Ich glaube, du bist vernünftig genug, entscheiden zu können, was er erfahren darf und wovon er nichts wissen sollte.«
»Das bin ich. Und ich werde die Augen offen halten und euch Nachricht zukommen lassen, falls es irgendwo zu weiteren dieser rätselhaften Gewaltausbrüchen kommt.«
Achmed nickte. »Bring dich ja nicht unnötig in Gefahr. Achte bitte darauf, dass es möglicherweise eine Verbindung zwischen Ashe und diesen Gewaltausbrüchen gibt. Den Verdacht habe ich schon seit einiger Zeit.«
»Was soll das heißen?«, fragte Rhapsody bestürzt.
»Die Hügel-Augen haben angegriffen, als er aufgekreuzt ist. Davor waren die letzten beiden Aufstände, von denen wir gehört haben, in der Nähe von Bethe Corbair – der eine kurz vor unserer Begegnung in der Stadt, der andere kurz danach. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang.«
Sie erschauderte. »Ich kann nur hoffen, dass du dich irrst.«
»Das hoffe ich auch. Denn jetzt ist es wohl zu spät für dich, die Reise abzublasen.«
Rhapsody dachte einen Augenblick lang nach. »Das Risiko einzugehen und schlimmstenfalls noch eingreifen zu können ist besser, als den Kopf in den Sand zu stecken«, antwortete sie. Achmed nickte. Er war ihrer Meinung.
Achmed, Grunthor und Jo waren gekommen, um Abschied zu nehmen, als sie und Ashe am Morgen des fünften Tages aufbrachen. Sie umarmte und küsste alle drei und versicherte ihnen, dass sie alles daransetzen werde, gesund und wohlbehalten zurückzukehren. Dann waren sie losmarschiert.
»Sie kommt nicht wieder, oder?«, sagte Jo unter Tränen, als die beiden hinter dem nächsten Felsgrat verschwanden. Die gewohnte gleichgültige Miene aufzusetzen wollte ihr einfach nicht gelingen, so traurig war sie.
»Ach, wo denkst du hin«, antwortete Grunthor und legte ihr den massigen Arm um die Schulter. »Die Gräfin ist zäher als es scheint. Das solltest du inzwischen wissen.«
Fuchtig wischte sich Jo die Augen. »Sie wird sterben, und ich bleib dann hier mit euch allein zurück. Wundervoll.«
Achmed schmunzelte. »Immerhin würdest du gesellschaftlich aufsteigen. Du wärst dann die neue Gräfin von Elysian und könntest bei Hofe die Rolle der fremden blonden Dame besetzen, es sei denn, dir würde anderswo ein besseres Angebot gemacht.
»Du kannst mich mal...«, zischte Jo und ging.
Grunthor schirmte die Augen vor dem Licht der aufgehenden Sonne ab. Er wirkte nachdenklich und besorgt. »Angenommen, sie käme tatsächlich um. Wie würden wir davon erfahren?«
Achmed zuckte mit den Schultern. Er spähte mit den Augen des Jägers gen Westen, vergeblich auf der Suche nach einer Spur von ihr oder einem Schatten. »Wahrscheinlich überhaupt nicht. Aber vielleicht würden wir ihr letztes Lied im Wind hören. Die Benenner der Lirin singen noch im Sterben.« Er seufzte stumm. Vielleicht würde er auch mitbekommen, wie ihr Herzschlag, dieser rhythmische, beruhigende Laut, den er auf der Haut spürte, plötzlich aussetzte. Er verdrängte den unliebsamen Gedanken. »Wir werden auch ohne sie zurechtkommen. Ist dir aufgefallen, dass sie ganz anders geklungen hat, als sie sagte, es werde ihr gut gehen und wir hätten keinen Grund zur Sorge? Nach einer Benennerin klang das nicht.«
Grunthor nickte. »Weil sie nicht sicher sein konnte, dass sie die Wahrheit sagt.«
Als sie und Ashe den letzten Gipfelgrat erreicht hatten, drehte sich Rhapsody noch einmal um und schaute nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Sie beschirmte die Augen und fragte sich, ob die drei langen Schatten, die sie in der Ferne sah, tatsächlich die der Freunde waren oder doch bloß von den Felsen und Klüften geworfen wurden, die sich in den Himmel reckten. So oder so, sie hob die Hand und winkte.
Der Blick zurück auf die Berge, die mehr und mehr in den Hintergrund rückten, machte sie beklommen. Ein Gefühl von Verlust und Trauer stellte sich ein und schnürte ihr die Kehle zu wie damals in jener Nacht vor langer Zeit. Meine Familie, dachte sie; wieder lasse ich meine Familie zurück .
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