Zum Schluss führte Rhapsody ihn durch einen langen Flur zum einstigen Thronsaal, der Großen Halle von Canrif, das nun Ylorc genannt wurde. Dort traf er nun auch die beiden an, die er schon auf dem Markt von Bethe Corbair kennen gelernt hatte das Mädchen Jo und diesen unausstehlichen Mann namens Achmed.
Des Weiteren war da ein riesiger Bolg, allem Anschein nach ein Mischling, den Rhapsody mit dem Namen Grunthor und als Hauptmann der Garde vorstellte, worauf der Riese die Hacken zusammenschlug und nickte, ansonsten aber schwieg. Jo zappelte aufgeregt herum, war aber offenbar schon zurechtgewiesen worden und hielt sich lächelnd zurück.
»Was führt dich hierher?«, fragte Achmed geradeheraus.
Ashe seufzte heimlich. Vielleicht hätte er lieber doch nicht kommen sollen. Rhapsody antwortete für ihn.
»Wir haben ihn eingeladen, Achmed. Erinnerst du dich nicht? Du warst doch dabei.« Sie wandte sich Ashe zu, schaute ihm in den Ausschnitt der Kapuze und war fast mit ihm auf Augenhöhe. »Es freut uns, dass du gekommen bist. Nicht wahr, Jo?« Sie lächelte, und Ashe spürte, wie seine Knie zu zittern anfingen.
»Ja«, sagte Jo.
»Wann reist du wieder ab?«, fragte Achmed.
»Achmed! Verzeih, Ashe. Er wollte eigentlich fragen, wie lange du bleiben kannst. Wir möchten uns darauf einstellen.« Rhapsody warf Achmed einen strafenden Blicke zu, um dann dem Gast sogleich wieder zuzulächeln. Ashe hatte Mühe, den Blick von ihr loszureißen, was aber nötig war, denn er musste auf der Hut bleiben.
»So lange ich willkommen bin«, antwortete er.
»Danke für den Besuch. Schön, dich zu sehen«, sagte Achmed.
»Achte gar nicht auf ihn. Er versucht, witzig zu sein, was ihm aber nie so recht gelingen will.«
Rhapsody errötete vor Verlegenheit und Wut.
»Ich kann ohnehin nicht lange bleiben«, sagte Ashe, fasziniert von Rhapsodys kaleidoskopisch wechselndem Mienenspiel. Mal war ihr Ausdruck warm und herzlich, mal wutentbrannt. Er hätte ihr stundenlang ins Gesicht schauen können, ohne dass ihm dabei langweilig geworden wäre.
»Wir haben die Unterkünfte für Botschafter herrichten lassen, weil wir jetzt, da mit Roland und Sorbold Friedensverträge unterzeichnet sind, deren Gesandtschaft bei uns erwarten. Dort wirst du ein angenehmes Quartier finden.«
»Wie bitte?« Ashe hatte von der Niederlage des Heers von Roland gehört; diese Nachricht war in aller Munde. Aber dass es schon vertragliche Vereinbarungen gab, war ihm neu. Die drei Achmed, Grunthor und Rhapsody – regierten doch erst seit wenigen Monaten. Es erschien ihm geradezu unmöglich, dass in so kurzer Zeit schon Gespräche aufgenommen, geschweige denn zum Abschluss gebracht worden waren. Das Zustandekommen des Friedensschlusses zwischen Roland und Sorbold hatte seinerzeit fast zweihundert Jahre in Anspruch genommen. Wieder sah sich Ashe vor einem Rätsel. Die drei schienen ungemein mächtig und einflussreich zu sein.
Sie waren zu dritt. Eine bedeutungsvolle Zahl, dachte Ashe, obwohl er den alten Prophezeiungen nicht glauben mochte. Wie auch immer, das Mädchen Jo schien zwar auf diesem Kontinent geboren zu sein, die drei anderen aber kamen offenbar woanders her. Trotzdem, angesichts einer solch einmaligen Fülle von Macht war selbst Ashe geneigt, an längst aufgegebene Hoffnungen wieder anzuknüpfen. Rhapsody lachte. »Warum so überrascht? Vor wenigen Wochen haben wir zuerst mit Roland und dann auch mit Sorbold einen Nichtangriffspakt und Handelsverträge geschlossen. Die Bolg stellen wieder eine Macht dar, mit der zu rechnen ist, und zwar im positiven Sinne. Sie sind keine marodierenden Banden mehr, sondern zuverlässige Wirtschaftspartner.«
Wie um ihre Worte zu verhöhnen, tönte aus dem Hintergrund plötzlich lautes Geschrei, das von den Felswänden widerhallte. Grunthor stürmte nach draußen in den Flur. Ihm folgten die anderen auf dem Fuß. Weit brauchten sie nicht zu laufen, denn schon kam ihnen ein Bote entgegen. Er war blutüberströmt.
Rhapsody kam vor Ashe hinter Achmed und Grunthor zu stehen und hörte, was der Bote zu berichten hatte.
»Was ist passiert?«, wollte Ashe wissen.
»Die Hügel-Augen greifen an. Idioten. Achmed hat versucht, sie zu einem Bündnis zu bewegen, doch sie weigern sich und fallen jetzt über andere Stämme her, die sich uns angeschlossen haben.«
»Hurra!«, brüllte Jo, die hinter Ashe aufgekreuzt war. »Endlich geht’s wieder mal rund; es war schon richtig langweilig hier. Ich hole dir schnell deinen Bogen, Rhaps.« Und schon rannte sie in Richtung Unterkünfte davon.
Ashe tippte Rhapsody auf die Schulter. Sie wirkte verärgert, aber nicht alarmiert. »Kann ich irgendwie helfen?«
»Du kannst dich gern nützlich machen. In Zeiten wie diesen ist uns jede Hilfe willkommen. Den Bolg fehlt es noch ein bisschen an Disziplin. Sie geraten leicht in Panik, sobald es zum Kampf kommt, vor allem wenn es gegen die Hügel-Augen geht. Das ist der wildeste, blutrünstigste Klan von allen.«
Ashe nickte. »Ich helfe gern. Du musst mir nur sagen, wie.«
»Danke.« Rhapsody lächelte. »Komm mit.«
Der Brennstoff für die Feuer, die die Höhenwege im Gebirge beleuchteten, bestand aus ranzigem Fett, was einen übel stinkenden Rauch aufsteigen ließ, der Rhapsody den Atem benahm und ihr in den Augen brannte.
Sie hatte gerade den letzten Wachposten der Hügel-Augen mit einem schnellen Hieb auf den Oberschenkel zu Fall gebracht, als sich ihr eine knochige Hand um den Arm schraubte.
»Sieh nur!«, hörte sie Achmeds raue Stimme, deren Klang nichts Gutes verhieß.
Sie fuhr mit dem Kopf herum und bekam ihren Gast zu Gesicht, der sich trotz des weiten, verhüllenden Umhangs als ein erstaunlich gewandter und schneller Kämpfer entpuppte.
Auf sich allein gestellt, stand er in einem Ring aus gefallenen Gegnern, die er selbst niedergestreckt hatte, und erwehrte sich ungestümer Attacken mit verblüffender Leichtigkeit. Es schien fast, als versuchte er seine Widersacher nach Möglichkeit zu verschonen.
In einer verwirrenden Abfolge von Bewegungen, die so schnell ausgeführt waren, dass sie mit ihren Blicken kaum folgen konnte, führte Ashe sein Schwert, das in der Dunkelheit blau aufblitzte. Alle, die gegen ihn antraten, gingen, einer nach dem anderen, zu Boden.
»Er ist gut«, murmelte Rhapsody und sah, wie er zur Seite sprang und einen Schlag parierte, der auf Jo gezielt war. »Fast so gut wie du, Achmed. Wenn der Vergleich überhaupt gestattet ist. Was meinst du, Grunthor?«
»Nich schlecht in Form, der Knabe«, pflichtete ihr der Sergeant bei. »Und wie findest du ihn, Achmed?«
Achmed kniff die Brauen zusammen und setzte eine finstere Miene auf.
»Er ist offenbar um einiges gefährlicher, als ich gedacht hatte.«
Es war kurz nach Mitternacht. Achmed saß allein im Dunkeln und dachte nach.
Die Ereignisse des Tages hatten ihn verstört. Der gescheiterte Angriff auf Canrif machte ihm am wenigsten zu schaffen; mit einem solchen letzten Aufbegehren gegen seine Herrschaft hatte er gerechnet. Weitaus irritierender fand er diesen mysteriösen Fremden, der über erstaunliche Fähigkeiten verfügte und Rhapsody wie ein Schatten folgte.
Er fragte sich, ob Ashes Ankunft und der schlecht geplante Angriff der Hügel-Augen womöglich in irgendeinem Zusammenhang miteinander standen, und er dachte zurück an die seltsamen Vorkommnisse, die er auf seiner Wanderung vom Weißen Baum durch Navarne bis hin nach Ylorc allenthalben und immer wieder miterlebt hatte: jene mörderischen Feindseligkeiten, die urplötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund über friedliche Ortschaften hereinbrachen und alsbald wieder eingestellt wurden, als wären sie ein bedauerliches Versehen gewesen. Der Gedanke, dass diese Gefahr womöglich nun auch seinem Königreich drohte, bereitete ihm große Sorgen.
Nachdem der Angriff niedergeschlagen worden und noch bevor Grunthor mit seinen Truppen losgezogen war, um den Nachzüglern der aufständischen Hügel-Augen entgegenzumarschieren, hatte er sich kurz mit dem Freund beraten, dem Ashe genauso wenig geheuer war wie ihm. Ehe er den Fremden kämpfen gesehen hatte, hatte Achmed ihn für einen Nichtsnutz und Aufschneider gehalten, und in seiner Einschätzung anderer lag er sehr selten falsch.
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