Aber jetzt war einiges anders geworden. Seit er sie auf dem Marktplatz in Bethe Corbair gesehen hatte, träumte er von Rhapsody. Das Schuldgefühl, Emily und ihr Andenken verraten zu haben, hielt nicht lange vor und fiel von ihm ab wie seine quälenden Schmerzen, wenn er ihre Stimme hörte. Ashe richtete sich auf und brachte Ordnung in die zerwühlten Dunstschleier. Dann schloss er die Augen, atmete tief durch und versuchte, sie aus den Gedanken zu vertreiben, damit erhalten blieb, was ihm einzig heilig war. Denn sogar in seinen Erinnerungen hielt er dieser einen Frau die Treue, die er, und sei es nur für einen kurzen Augenblick, wieder sehen wollte, wofür er sich über die Grenzen der Zeit hinaus gewagt hatte.
Es konnte keine andere für ihn geben; dessen war er sich sicher. Wie in einem Schrein bewahrte er Emily in seinem Herzen.
Und doch war darin nun diese Frau. Er konnte sie nicht daraus vertreiben.
Bis ich dich wieder sehe, werde ich die ganze Zeit an dich denken .
Bald gehörte Ashe gewissermaßen mit zum festen Personal von Ylork. Auf Achmeds Geheiß war ihm allerdings der Zutritt zu Gwylliams Gruft und zur alten Bibliothek verwehrt. In diese Kammern durften nur Rhapsody, Grunthor und der König. Dank seines Drachenspürsinns wusste Ashe natürlich, wo diese Kammern lagen, aber aus irgendeinem Grund blieb ihm verborgen, was sich darin befand. Er konnte in dem abgesperrten Bereich keine Einzelheiten ausmachen.
Diese Einschränkung überraschte, störte ihn aber nicht weiter. Denn Rhapsody war gern bereit, ihm zu schildern, was sie an Kunstschätzen dort vorgefunden hatte, und wenn Achmed abends nach dem Essen in den Manuskripten aus der Bibliothek las, gab er auch, ohne es zu wissen, Ashe die Gelegenheit, Einblick zu nehmen.
Als dieser wieder einmal dem Firbolg-König mit seinem Drachensinn gewissermaßen über die Schulter schaute, wurde ihm der Blick jedoch verwehrt. Er öffnete die Augen und sah sich von Achmed, der das Dokument in seinen Händen zusammengerollt hatte, mit scharfem Blick fixiert. Der Kriegsherr schien ihm auf die Schliche gekommen zu sein. Als wäre er selbst ein Drache, so spürte er offenbar ganz genau, was in seinem Herrschaftsbereich vor sich ging. Ashes Möglichkeiten waren entsprechend begrenzt.
Alle Beleidigungen und Beschränkungen waren es jedoch wert, ertragen zu werden, denn so konnte er in Rhapsodys Nähe sein. Sie war eine Freude, so viel stand fest. Ihr Charakter offenbarte eine Unzahl an Facetten und Widersprüchlichkeiten; mal war sie sanft, mal wild, je nach den Umständen, und besaß die seltene Fähigkeit, über sich selbst zu lachen oder die mitunter schroffen Hänseleien ihrer Freunde zu ertragen. Sie kümmerte sich rührend um Jo und nahm sie vor Angriffen in Schutz wie eine Löwin ihr Junges. Ihre Intelligenz und ihr Sinn für Humor waren unvergleichlich.
Ashe wollte seine Reise unbedingt fortsetzen, denn er wollte seine Liebste schließlich nicht länger warten lassen, doch es erschien ihm kaum möglich, sich von der Sängerin zu verabschieden. Um sie nicht zu irritieren oder gar zu verschrecken, vermied er es, ihr seine wahren Gefühle zu zeigen. So konnte sie ihm gegenüber ganz unbefangen auftreten, und es schien, als fasste sie Zuneigung zu ihm.
Nur noch ein paar Tage, redete er sich Nacht für Nacht ein, wenn er in seinem Bett lag und darüber nachdachte, was sie wohl träumen mochte. Achmeds Wille setzte sich auch innerhalb der Felsgemäuer durch, sodass es Ashe nicht gelingen wollte, ihr mit seinem Spürsinn nachzustellen. Das beunruhigte ihn.
Ein paar Tage später sollte sich all das ändern. Achmed und Grunthor waren unterwegs, um Höhlen zu erforschen. Mit Rhapsody als Zuschauerin lieferten sich Ashe und Jo gerade einen Wettkampf im Messerwerfen, als die beiden Bolg von ihrem Ausflug zurückkehrten. Sie waren bei bester Laune, wie es schien.
»Sieh mal, was wir gefunden ham, Gräfin«, rief Grunthor und reichte ihr eine schmale, mit Edelsteinen besetzte Kassette. Sie wies keinen einzigen Kratzer auf und war aus dem dunklen, blaustichigen Holz der Hespera gemacht, einem im Verborgenen Reich beheimateten Baum, aus dem viele der alten Möbel, die sie in Canrif vorgefunden hatten, getischlert worden waren. Der Deckel ließ sich über zwei kleine goldene Scharniere aufklappen. Ein Schloss gab es nicht.
»Das Ding lag verschüttet unter einem Haufen von Kisten und Kästen«, berichtete Achmed und schenkte sich aus einer Karaffe ein Glas Wein ein.
Rhapsody öffnete die Kassette mit gebotener Vorsicht. Darin lag ein krummer, schartiger Dolch mit beinernem Griff und einer Klinge, die, der Farbe nach zu urteilen, aus einer Kupfer-Gold-Legierung geschmiedet zu sein schien.
»Seltsam.« Vorsichtig nahm sie den Dolch aus der Kassette und wog ihn in der Hand. »Eine Waffe aus rotem Gold. Wer denkt sich denn so etwas aus? Eine solche Klinge ist doch viel zu weich. Und handwerklich ist sie auch nicht sonderlich gut gemacht. Seht nur, all die Macken an der Oberfläche.«
»Vielleicht wär’s nur ein zeremoniell genutzter Gegenstand.«
Rhapsody schloss die Augen und lauschte. In der Luft rings um den Dolch nahm sie ein deutliches Summen wahr. Alarmiert schlug sie die Augen wieder auf. »Himmel! Ich glaube, ich weiß, was es ist«, hauchte sie und wurde schlagartig bleich im Gesicht.
»Was denn?«
»Das ist die Kralle eines Drachen. Seht doch.« Sie hob das Fundstück in die Höhe. Tatsächlich, da gab es keinen Zweifel, und aus der Größe war zu schließen, dass der Drache gigantische Ausmaße gehabt haben musste.
»Gerade das richtige Schwert für unser kleines Mädchen«, sagte Grunthor.
»Du spinnst wohl«, platzte es aus Rhapsody heraus, was sie aber angesichts der betroffenen Miene des Riesen sofort bereute. »Tut mir Leid, Grunthor«, sagte sie. »Mir ist nur sogleich eine Geschichte eingefallen, die in unserer alten Heimat erzählt wurde. Darin heißt es, dass Drachen besonders eigensinnige Lebewesen sind, die ihre Schätze sehr eifersüchtig hüten. Sollte der Drache, dem diese Kralle gehört, noch am Leben sein, wird er wissen, wer sie hat, oder danach suchen und nicht ruhen, bis er sie wieder gefunden hat. Ich will nicht, dass Jo auch nur in die Nähe dieses Dings kommt. Vielmehr rät sich wohl, dass wir es von hier wegschaffen. Vielleicht sollten wir es ihr zurückbringen.«
»Ihr?«
»Elynsynos, Anwyns Mutter. Erinnerst du dich nicht? Llaurons Großmutter. Oder weiß jemand von einem anderen Drachen, der in diesem Land gelebt hätte?«
»Das Ding liegt hier nun schon seit Jahrhunderten«, entgegnete Achmed in gereiztem Tonfall. »Warum sollte sie es jetzt noch zurückhaben wollen?«
»Vielleicht hat sie die Spur verloren, weil die Kralle in einem versiegelten Gewölbe lag. Jetzt aber, da ihr sie wieder ins Freie geholt habt, wird sie Wind davon bekommen. Damit ist wirklich nicht zu spaßen, Achmed. Gleich zu Anfang unserer Gesangsausbildung wurden uns Geschichten von Drachen und anderen Erstgeborenen erzählt. Viele dieser Geschichten handeln von der Rache dieser Wyrmer an denen, die sich an ihren Schätzen vergriffen haben. Wir sollten uns wirklich ein paar ernste Gedanken über diese Kralle machen. Sonst könnte es womöglich passieren, dass wir eines Nachts aufwachen, und es regnet Feuer vom Himmel.«
Grunthor seufzte. »Wenn ich wieder mal was Schönes finde, werd ich’s dir bestimmt nich zeigen«, maulte er.
»Sie könnte aber Recht haben«, erwiderte Achmed und ließ damit die anderen überrascht aufmerken. Auch er kannte die von ihr angesprochenen Geschichten – und noch bedrohlichere. »Aber ob es das Richtige ist, die Kralle zurückzubringen, halte ich für fraglich. Vielleicht sollten wir damit auf die höchste Bergspitze steigen und sie hinaus auf das Plateau werfen. Wenn die Drachenfrau tatsächlich noch lebt, wird sie sie finden.«
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