„Dir sollen Flügel wachsen. Du sollst der Vater aller geflügelten Pferde sein!" brüllte Aslan, und seine Stimme ließ die Erde erbeben. „Dein Name sei Flügelpfeil."
Das Pferd scheute, geradeso wie in jenen unglücklichen Tagen, als es noch eine Droschke gezogen hatte. Dann stieg es auf. Es drehte den Kopf nach hinten, als säße auf seinen Schultern eine Stechmücke und es müsse sich kratzen. Und so wie zuvor die Tiere aus der Erde hervorgebrochen waren, brachen aus seinen Schultern jetzt Flügel hervor und begannen zu wachsen. Sie wuchsen größer als die Flügel der Adler, größer als die der Schwäne, größer als die Engelsflügel in den Kirchenfenstern. Braun und kupfern schimmerten die Federn. Das Pferd schlug kraftvoll mit den Flügeln und erhob sich in die Luft. Zwanzig Fuß über Aslan und Digory zog es schnaubend und wiehernd eine Runde. Dann ließ es sich mit allen vier Hufen gleichzeitig ein wenig unbeholfen wieder zur Erde plumpsen. Ein bißchen überrascht sah es aus, doch gleichzeitig überglücklich.
„Gefällt es dir, Flügelpfeil?" erkundigte sich Aslan.
„Ja, es gefällt mir sehr, Aslan", sagte Flügelpfeil.
„Wirst du diesen kleinen Sohn Adams auf deinem Rücken zu dem Hügeltal tragen, von dem ich sprach?"
„Was? Jetzt? Sofort?" fragte Goldapfel – oder Flügelpfeil, wie wir ihn jetzt nennen müssen. „Hurra! Komm, Kleiner! Solche Geschöpfe wie dich hab’ ich schon öfter auf dem Rücken getragen. Damals, als es noch grüne Wiesen gab und Zucker."
„Was gibt es denn da zu flüstern, ihr Töchter Evas?" Aslan drehte sich ganz plötzlich zu Polly und der Frau des Kutschers um, die gerade im Begriff waren, sich anzufreunden.
„Wenn es dir beliebt, Herr", sagte Königin Heien, denn das war sie ja jetzt geworden, „ich glaube, das kleine Fräulein würde ebenfalls gern mitreisen, sofern es keine Mühe macht."
„Was meinst du dazu, Flügelpfeil?" fragte der Löwe.
„Ich hab’ nichts dagegen. Sie sind ja klein und leicht", entgegnete das Pferd. „Ich hoffe bloß, der Elefant will nicht auch noch mit."
Das hatte der Elefant nicht vor. Der neue König von Narnia half also den beiden aufs Pferd. Digory hob er ein wenig grob und ohne viel Umstände hinauf, Polly dagegen setzte er ganz vorsichtig auf den Pferderücken, als bestünde sie aus Porzellan und sei zerbrechlich. „So, da sind sie, Goldapfel – oder vielmehr Flügelpfeil. Das wird 'ne Reise geben!"
„Flieg nicht zu hoch!" warnte Aslan. „Versuch nicht, die vereisten Kuppen zu überqueren. Du mußt über die grünen Täler hinwegfliegen, dort wirst du überall einen Durchlaß zwischen den Gipfeln finden. Nun macht euch auf den Weg. Mein Segen sei mit euch."
„Herrje, Flügelpfeil!" Digory beugte sich aufgeregt nach vorn und tätschelte den schimmernden Pferdehals. „Das ist wirklich phantastisch. Halt dich gut an mir fest, Polly!"
Im nächsten Augenblick versank unter ihnen die Erde. Wie eine riesige Taube drehte Flügelpfeil noch ein oder zwei Runden, bevor er sich auf seinen langen Flug nach Westen machte. Polly schaute hinunter, doch der König und die Königin waren kaum mehr zu sehen. Selbst von Aslan war nur noch ein strahlend gelber Fleck auf dem grünen Gras übriggeblieben. Kurz darauf traf der Fahrtwind die beiden Kinder, und der Flügelschlag des Pferdes wurde gleichmäßig und stetig.
Ganz Narnia lag jetzt unter ihnen ausgebreitet, vielfarbig getupft mit Wiesen, Felsen, Heidekraut und den verschiedenartigsten Bäumen. Dazwischen schlängelte sich wie ein Quecksilberband der Fluß. Schon jetzt konnte man über die Gipfel der niedrigen Berge sehen, die rechts von ihnen im Norden lagen. Ein weites Moorgebiet wellte sich dort sanft nach oben und dem Horizont entgegen. Die Berge zur Linken waren viel höher, doch hie und da konnte man zwischen den steilen, baumbewachsenen Hängen einen Blick auf die südlichen Gegenden dahinter werfen. Ganz blau schimmerte es dort weit in der Ferne.
„Dort muß Archenland sein", sagte Polly.
„Ja. Aber schau mal geradeaus!" rief Digory.
Vor ihnen erhoben sich mächtige Klippen, und die Kinder waren fast geblendet von dem Sonnenlicht, daß auf dem riesigen Wasserfall tanzte, der tosend und funkelnd von der Hochebene nach Narnia hinabstürzte, auf der er seinen Ursprung hatte. Sie flogen nun schon so hoch oben, daß sie vom Donnerbrausen des Wassers nur noch ein leises Murmeln hörten, aber noch nicht so hoch, daß sie über die Klippen hätten hinwegfliegen können.
„Jetzt müssen wir einen Zickzackkurs einschlagen!" warnte Flügelpfeil. „Haltet euch schön fest!"
Hin- und herfliegend wand er sich höher hinauf in die Lüfte. Dort wurde die Luft kühler, und weit unter ihnen schallte der Ruf der Adler.
„Sieh dich mal um!" rief Polly.
Jetzt lag das ganze Tal von Narnia unter ihnen ausgebreitet, bis dorthin, wo kurz vor dem östlichen Horizont noch ein Streifen vom Meer zu sehen war, und gleich darauf flogen sie schon so hoch, daß sie hinter dem Moorgebiet im Norden zerklüftete Berge auftauchen sahen. Ganz winzig wirkten sie so aus der Ferne. Und dort, ganz weit im Süden, schienen sandige Ebenen zu liegen.
„Wenn uns nur einer erklären könnte, was das für Gegenden sind, die wir da sehen", beklagte sich Digory.
„Vermutlich ist das alles überhaupt noch nichts, sozusagen", meinte Polly. „Hier gibt es ja niemanden, und passieren tut auch nichts. Diese Welt hier ist doch erst seit heute am Leben."
„Ja, aber irgendwann wird alles besiedelt", erklärte Digory. „Und dann wird es auch in diesen Gegenden eine Geschichte geben."
„Also, ich finde es gut, daß es so etwas bis jetzt hier noch nicht gibt. Dann muß wenigstens keiner Geschichte lernen. Jahreszahlen und Kriege und all diesen Mist."
Jetzt lagen die Klippen hinter ihnen, und ein paar Minuten später war auch Narnia nicht mehr zu sehen. Unter ihnen breitete sich ein wilder Landstrich mit steilen Hängen und dunklen Wäldern aus. Noch immer folgten sie dem Lauf des Flusses. Vor ihnen ragte die mächtige Bergkette auf, doch da sie direkt in die Sonne schauen mußten, konnten sie in dieser Richtung nicht viel erkennen. Die Sonne sank tiefer und tiefer, bis im Westen der Himmel aussah wie ein Riesenkessel voll von geschmolzenem Gold. Schließlich verschwand sie hinter einer Zackenspitze, die sich vor dem glühenden Himmel so scharf und so flach abzeichnete, als hätte man sie aus Pappe geschnitten.
„Es ist nicht besonders warm hier oben", sagte Polly, weil sie allmählich fror.
„Und mir tun langsam die Flügel weh", klagte das Pferd. „Ich sehe kein Tal mit einem See, so wie von Aslan beschrieben. Was meint ihr? Sollen wir landen und uns ein schönes Plätzchen suchen, wo wir die Nacht verbringen können? Heute abend schaffen wir es sowieso nicht mehr bis zu diesem Garten."
„Ja. Und Essenszeit müßte doch auch langsam sein", meinte Digory.
Also ließ sich das Pferd tief und tiefer sinken. Hier, in der Nähe des Bodens und zwischen den Hängen, wurde die Luft immer wärmer; und nach der langen Flugzeit, wo sie nur das Schlagen der Flügel wahrgenommen hatten, war es schön, die vertrauten Geräusche wieder zu hören – das Murmeln des Flusses in seinem steinigen Bett, das Rauschen der Bäume im sanften Wind. Ein köstlicher warmer Geruch von sonnendurchglühter Erde, von Gras und Blumen zog ihnen in die Nase. Schließlich landete Flügelpfeil, und Digory und Polly kletterten von seinem Rücken. Beide waren froh, daß sie ihre steifen Glieder strecken konnten.
Sie standen in einem Tal, umgeben von Bergen mit schneebedeckten Kuppen. Eine davon ragte in der untergehenden Sonne blutrot auf.
„Hab’ ich einen Hunger!" rief Digory.
„Greif nur zu!" sagte Flügelpfeil und rupfte ein großes Maul voll Gras ab. Dann hob er den Kopf, kaute, und während ihm das Gras wie ein Schnurrbart zu beiden Seiten aus dem Maul hing, sagte er: „Na los, ihr beiden! Scheut euch nicht! Es reicht für alle!"
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