Und da war noch etwas.
Tally wußte nicht, was es war – aber im gleichen Moment, in dem sie den Boden berührte, vielleicht sogar schon vorher, ergriff eine sonderbare Unruhe von ihr Besitz, etwas, das nichts mit ihrer Furcht oder der fremdartigen Umgebung zu tun hatte. Ein wenig erinnerte sie das Gefühl an das, das sie in Karans Sumpf gehabt hatte, auch wenn es gleichzeitig ganz, ganz anders war: aber sie spürte, daß irgend etwas hier war, irgend etwas Fremdes, Böses, ungemein Mächtiges. Und es waren nicht Jandhi und ihre Drachen.
Tally schauderte. Eine entsetzliche Angst bemächtigte sich ihrer, und es war keine Angst mehr vor dem Tod, vor irgend etwas, das sie körperlich bedrohte, sondern...
Nein – sie wußte nicht, was es war. Irgend etwas, ein Teil ihrer menschlichen Seele, zog sich zusammen wie ein getretener Wurm, als sie das Fremde spürte, das diesen Ort beherrschte, etwas Düsteres, Altes; etwas durch und durch Unmenschliches; etwas, das so alt war wie diese Welt, vielleicht älter, und das vom ersten Tag der Schöpfung an der Feind aller anderen denkenden Kreaturen gewesen war.
Tally hatte niemals an derartige Dinge geglaubt – aber jetzt fragte sie sich allen Ernstes, ob es so etwas wie das personifizierte Böse und die Hölle vielleicht doch gab. Und ob sie beidem nicht vielleicht sehr viel näher war, als sie noch vor Augenblicken geahnt hatte...
Sie sah, wie Jandhi sich umwandte und mit einer der insektoiden Kreaturen sprach. Sie verstand die Worte nicht, aber ihr Tonfall und die Gesten, die sie auf beiden Seiten begleiteten, erschreckten sie. Die Bewegungen des Hornkopfes waren herrisch, voller Ungeduld und Zorn. Und Jandis Antworten... Tally wußte, wie absurd der Gedanke war: aber für einen Moment fragte sie sich, wer von den beiden der Sklave, und wer der Herr war... Schließlich endete der kurze Disput so abrupt, wie er begonnen hatte. Der Hornkopf deutete mit einer zornigen Geste auf sie und drehte sich herum, um Jandhi einfach stehenzulassen. Und hätte Tally nicht ganz genau gewußt, daß es unmöglich war, hätte sie in diesem Moment geschworen, daß seine Facettenaugen sie mit stummer Wut gemustert hatten.
Auf Jandhis Gesicht spiegelten sich Zorn und Ohnmacht, als sie sich zu Tally herumdrehte. Dann bemerkte sie ihren verwunderten Blick und versuchte, sich in ein Lächeln zu retten. Ganz gelang es ihr nicht, und sie merkte es wohl selbst.
»Was war das, Jandhi?« fragte Tally verstört. »Dieser... dieser Hornkopf – wer war er?«
Jandhi seufzte. Für einen Moment verdunkelten sich ihre Augen vor Zorn, dann huschte ein sehr sonderbares, fast resignierendes Lächeln über ihre Züge. »Komm mit«, sagte sie. »Du wirst verstehen. Bald.«
Die Stadt der Drachen war ein Labyrinth aus Gängen und Stollen, aus Treppenschächten und gigantischen, leeren Felsendornen, aus jäh aufklaffenden Abgründen und bodenlosen Schlünden, in deren Tiefe ein unheimliches rotes Feuer glomm. Ein halbes Dutzend bewaffneter Hornköpfe nahm Tally und Jandhi in Empfang, als sie die Höhle durchquerten, und noch einmal die gleiche Anzahl der schrecklichen schwarzen Kreaturen stieß zu ihnen, als sie tiefer ins Innere des hohlen Berges eindrangen.
Tally hatte gehofft, Hrhon und Angella wenigstens noch einmal wiederzusehen, aber diese Hoffnung wurde enttäuscht: Jandhi führte sie durch ein wahres Labyrinth niedriger, kaum beleuchteter Gänge und Treppen tiefer und tiefer in den Berg hinein, und das einzige menschliche Leben, auf das sie trafen, waren drei oder vier schwarzgekleidete Drachentöchter, die jedoch respektvoll beiseitetraten, als sie Jandhi und ihre Eskorte erblickten.
Dafür wimmelte der Berg von Hornköpfen.
Tally sah im wahrsten Sinne des Wortes Tausende der schrecklichen Kreaturen, in allen nur denkbaren (und ein paar undenkbaren...) Formen und Größen – angefangen von kaum handspannengroßen, emsig hin und her hastenden Geschöpfen von termitenähnlichen Aussehen bis hin zu titanischen Kreaturen, halb so groß wie eine Hornbestie und gewaltige Lasten schleppend.
Schließlich erreichten sie einen Teil der Drachenstadt, in der die Räume kleiner und heller erleuchtet waren; nach und nach nahmen die menschlichen Stimmen wieder zu und das schrille Pfeifen und Sirren der Hornköpfe ab; sie bewegten sich wieder in eine Welt hinein, die wengistens die Illusion von Normalität bot, und sei es nur, weil die meisten Lebewesen, denen sie jetzt begegneten, aus weichem Fleisch statt aus stahlhartem schwarzem Chitin bestanden.
Sie betraten einen großen, vollkommen leeren Saal, in dem Jandhi einen Moment lang stehenblieb und den Kopf auf die Seite legte; fast als lausche sie auf eine für Tally unhörbare Stimme, und als sie weitergingen, blieb der allergrößte Teil ihrer Eskorte hinter ihnen zurück. Nur noch zwei der gewaltigen Rieseninsekten begleiteten Tally – was allerdings mehr als genug war, jeden Gedanken an Flucht oder Widerstand schon im Keim zu ersticken.
Die beiden Hornköpfe gehörten zu einer Spezies, die Tally noch niemals zuvor gesehen hatte: es waren übermannsgroße, ungemein kräftige Kreaturen, deren Chitinpanzer über und über mit Dornen und rasiermesserscharfen Kanten besetzt waren. Und als reichten die Waffen noch nicht aus, die ihnen die Natur mitgegeben hatte, trug jeder der aufrecht gehenden Scheußlichkeitten gleich vier Schwerter – eines in jeder Hand. Angella, Hrhon und sie zusammen hätten wohl kaum eine Chance gehabt, auch nur eines dieser Ungeheuer zu besiegen.
Und Tally dachte auch gar nicht an Flucht. Sie war nicht hier, um zu kämpfen – wenigstens nicht auf diese Art.
Sie durchquerten den Saal und betraten einen kleineren, spartanisch eingerichteten Raum, dessen Südwand von einem großen, vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster gebildet wurde. Sein Glas war so klar, daß Tally es erst bemerkte, als sie mit den Fingerspitzen dagegenstieß.
Dann begriff sie, daß es gar kein Fenster war. Sie hatten sich tiefer in den Berg hineinbewegt, nicht nach oben, und die Landschaft, die sich unter ihr ausbreitete, war auch nicht die karge Steinwüste des Schlunds, sondern... ja, was eigentlich?
Sie erinnerte sich nicht, jemals eine Landschaft wie diese erblickt zu haben. Unter ihr, unendlich tief unter ihr, wie es schien, breitete sich ein idyllisches Muster aus Wiesen und Wäldern aus, durchzogen von kleinen, willkürlich gewundenen Bächen und glitzernden Seen. Hier und da glaubte sie Bewegung wahrzunehmen, ohne genau sagen zu können, was sie verursachte. Sehr weit im Norden, wie mächtige Schatten auf dem Horizont schwimmend, waren Berge, mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen.
»Gefällt es dir?« fragte Jandhi. Sie lächelte, trat an die Wand neben dem Fenster und berührte einen Schalter, der dort angebracht war.
Die Waldlandschaft verschwand. Statt dessen war unter Tally plötzlich Wasser, eine ungeheure, unvorstellbare Menge von Wasser, vom Sturm zu zehnfach mannshohen, schaumgekrönten Wogen gepeitscht.
Tally sprang mit einem erschrockenen Schrei zurück, starrte Jandhi an und dann wieder das so jäh erschienene Meer und schließlich wieder Jandhi. »Was... was ist das?« stammtelte sie. »Das ist...«
»Zauberei?« Jandhi lachte amüsiert, schüttelte den Kopf und berührte abermals die Wand. Das tobende Meer wich einer öden, von einer blutigroten bösen Sonne überstrahlten Wüstenlandschaft.
»Es ist keine Zauberei«, sagte Jandhi. »So etwas gibt es nicht, Talianna. Auch, wenn dir das meiste von dem, was du hier sehen wirst, so vorkommen wird.«
Wieder hob sie die Hand, und wieder wechselte das Bild hinter dem Fenster: jetzt erstreckte sich dort eine Stadt, wenn auch eine, wie sie Tally niemals zuvor erblickt hatte – sie sah Häuser von geradezu absurder Höhe, breite, mit weißem Marmor gepflasterte Straßen, kühn geschwungene Bögen und Brücken; Gebäude, deren Aussehen zu phantastisch war, als daß sie irgendeinen Vergleich fand, der auch nur annähernd gepaßt hätte. Die Stadt war... phantastisch. Und sie war groß, unvorstellbar groß.
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