Die ersten Tage zu Hause rief er sie jeden Nachmittag an. Höfliche, freundliche, unverbindliche Konversation. Sie schien zu einem Rendezvous nicht bereit zu sein — solche Treffen waren in ihrer Clique ohnehin nicht gebräuchlich —, aber sie sagte ihm, sie werde ihn beim Tanz im Club am Samstagabend sehen. Timothy machte sich große Hoffnungen. Der Tanzabend war eine ganze formelle Sache, wo die Partner ständig gewechselt werden mußten, und die nur durch Fummel-Zwischenspiele in den diversen bewährten Nischen des Clubgebäudes unterbrochen wurde. Es gelang Timothy, sie gegen Mitte des Abends in eine dieser Nischen zu bewegen, und obwohl er es auch nicht annähernd schaffte, in ihre Nische zu gelangen, kam er doch weiter als je zuvor: Zungenkuß und die Hände unter ihrem BH. Und er meinte, einen bestimmten Glanz in ihren Augen zu entdecken. Beim nächsten Tanz mit ihr lud er sie ein, mit ihm einen Bummel zu machen — das gehörte ebenfalls zum festen Ritual des Clubs. Sie liefen durch die Gegend, und er schlug vor, ins Bootshaus zu gehen. In ihrer Clique war der Gang zum Bootshaus gleichbedeutend mit dem Bumsen. Seine Finger glitten emsig über ihre kühlen Schenkel. Ihr bebender Körper pulsierte unter seinen Liebkosungen. Ihre leidenschaftliche Hand rieb an der angeschwollenen Vorderseite seiner Hose. Wie ein wild gewordener Bulle packte er sie mit dem Vorhaben, sie gleich hier an Ort und Stelle zu ficken. Und mit der Gewandtheit einer Olympiasiegerin in Jungfräulichkeit stieß sie ihm mit ihrem mädchenhaften Knie in die Eier und entkam so in letzter Sekunde der drohenden Vergewaltigung. Nachdem sie ihn mit einigen ausgesuchten Bemerkungen über seine tierischen Manieren bedacht hatte, stürmte sie davon und ließ ihn betäubt und verwirrt im kühlen Bootshaus zurück. Ein schlimmer Schmerz tobte in seiner Leistengegend, und sein Verstand war blind vor Wut. Was konnte ein heißblütiger amerikanischer Jugendlicher in einer solchen Situation tun? Timothy jedenfalls stakste ins Clubhaus zurück, schnappte sich eine halbvolle Flasche Bourbon von der Bar und taumelte wieder in die Nacht hinaus. Er war sehr erregt und tat sich selbst unendlich leid. Nachdem er die Hälfte des Bourbons hinuntergekippt hatte, sprang er in seinen tollen kleinen Mercedes-Sportwagen und raste mit achtzig Meilen in der Stunde nach Hause. Zunächst genehmigte er sich in der Garage den Rest des Bourbons; dann stieg er sturzbesoffen und blind vor Zorn die Treppe hoch, stürmte in das Schlafzimmer seiner jungfräulichen jüngeren Schwester und warf sich auf sie. Sie kämpfte gegen ihn an, sie flehte und wimmerte. Aber in seiner Wut hatte Timothy die Kraft von zehn Männern, und nichts konnte ihn von seinem einmal festgelegten Kurs abbringen, nicht mit diesem großen Harten, der alle anderen Gedanken verdrängte. Sie war eine Frau; sie war eine Hure; er würde es ihr besorgen. In diesem Moment sah er keinen Unterschied zwischen dem aufregenden Hosenspanner im Bootshaus und seiner bedauernswerten Schwester. Beide waren sie Huren, alle waren sie Huren, und er würde es jetzt dem ganzen weiblichen Geschlecht zeigen. Mit Knien und Ellenbogen hielt er sie ans Bett gefesselt. „Wenn du schreist“, erklärte er ihr, „breche ich dir das Genick.“ Und es war ihm ernst damit, denn zu diesem Zeitpunkt war er nicht mehr zurechnungsfähig, und das wußte sie auch. Rasch lag seine sich windende Schwester ohne Pyjamahose da. Gnadenlos hämmerte ihr Bruder wie ein schnaubender Hengst in ihr zartes Tor. „Ich glaube nicht, daß sie noch Jungfrau war“, erklärte er mir verdrießlich. „Ich kam ohne Schwierigkeiten rein.“ Nach zwei Minuten war alles vorbei. Er rollte von ihr runter, und beide zitterten: sie vom Schock und er vor Befriedigung. Er erklärte ihr, daß es ihr nichts nützen würde, sich darüber bei den Eltern zu beschweren; denn sie würden ihr wahrscheinlich nicht glauben, und wenn sie einen Arzt kommen ließen, der sie untersuchen sollte, würde es mit Sicherheit einen Skandal geben. Geflüster und heimliche Verdächtigungen. Und sobald es einmal die Runde durch die Stadt gemacht habe, seien ihre Chancen, jemals von irgend jemandem geheiratet zu werden, zerstört, und zwar auf ewig. Sie starrte ihn an. Timothy hatte noch nie zuvor soviel Haß in den Augen eines anderen gesehen.
Er machte sich auf den Weg in sein eigenes Zimmer und fiel dabei mehrmals hin. Als er nüchtern und bestürzt wieder erwachte, war es schon später Nachmittag, und er machte sich darauf gefaßt, daß unten bereits die Polizei auf ihn wartete. Aber unten befand sich niemand, außer seinem Vater, seiner Stiefmutter und dem Personal. Und keiner benahm sich so, als ob irgend etwas vorgefallen wäre. Sein Vater lächelte und fragte Timothy, wie es beim Tanzabend gewesen sei. Seine Schwester war außer Haus mit ihren Freunden unterwegs. Sie kehrte erst zum Abendessen zurück, und als sie da war, verhielt sie sich so, als wenn alles in Ordnung sei. Sie grüßte Timothy mit einem kühlen, distanzierten und üblichen Kopfnicken. An diesem Abend nahm sie ihn beiseite und sagte mit bedrohlicher, furchteinflößender Stimme: „Solltest du so etwas noch mal versuchen, bekommst du ein Messer in die Eier, das schwöre ich dir.“ Das war auch schon das letzte Mal, daß sie auf dieses Thema einging. In den ganzen vier Jahren hatte sie nicht einmal mehr davon gesprochen, zumindest nicht ihm gegenüber, aber wahrscheinlich auch zu keinem anderen. Offensichtlich hatte sie diese Episode in irgendeiner versiegelten Abteilung ihres Herzens verschlossen, verdrängte sie wie eine unruhige Nacht, wie schlechte Träume. Ich konnte jederzeit bezeugen, daß es ihr gelungen ist, eine perfekte, eisige Oberfläche aufzusetzen und ihre Rolle als ewige Jungfrau zu spielen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wer oder was schon alles in ihr war.
Das war’s. Das war auch schon alles. Als Timothy fertig war, sah er auf, ausgelaugt, leer, grau im Gesicht, als wäre er anderthalb Millionen Jahre alt. „Ich kann dir gar nicht begreiflich machen, wie beschissen ich mich deshalb immer gefühlt habe“, sagte er.
„Fühlst du dich jetzt besser?“
„Nein.“
Das überraschte mich nicht. Ich habe nie daran geglaubt, daß das Öffnen der Seele einem das Leid lindern hilft. So etwas verteilt das Leid nur. Was Timothy mir erzählt hatte, war eine trübe Geschichte, eine erniedrigende Story, niederschmetternd und entmutigend. Ein Mädchen aus der Oberschicht, das sich mit solchen Geschichtchen gegenseitig in Besorgnis versetzt, sich um Jungfräulichkeit und Wohlstand sorgt und kleine, melodramatische Operetten erfindet, in denen sie selbst und ihre Freunde die Hauptrolle spielen, Geschichten, die hauptsächlich von Snobismus und Frustration leben. Mir tat Timothy wirklich etwas leid, der große, massige, nette Timothy aus der Oberschicht, halb Opfer und halb Krimineller, der bloß etwas Zerstreuung im Club gesucht hatte und statt dessen in die Eier getreten worden war. Also hatte er sich betrunken und seine Schwester vergewaltigt, weil er glaubte, das würde seine Laune verbessern, oder vielleicht hatte er sich auch gar nichts dabei gedacht. Und das war sein großes Geheimnis, seine schlimmste Sünde. Die Geschichte machte mich betroffen. Sie war so niederträchtig, so traurig; und von nun an mußte ich sie ständig im Kopf mit mir herumtragen. Ich war nicht fähig, auch nur ein Wort zu ihm zu sagen. Nach ungefähr zehn Minuten des Schweigens stand Timothy schwerfällig auf und schlurfte zur Tür.
„Also, bitte sehr“, sagte er, „ich habe getan, was Bruder Javier von mir verlangte. Jetzt fühle ich mich wie ein Stück Scheiße. Wie fühlst du dich, Oliver?“ Er lachte. „Morgen bist du dran.“
Ja, morgen bin ich dran.
Oliver sagte: „Das war damals, an jenem Tag, Anfang September, als mein Freund Karl und ich auf die Jagd gingen, nur wir zwei. Wir suchten den ganzen Morgen im struppigen Unterholz nördlich der Stadt nach Tauben und Rebhühnern, aber wir fanden nur Staub. Dann traten wir aus dem Wald heraus und sahen vor uns einen See, eigentlich war es mehr ein Weiher, und uns war heiß, und wir schwitzten, denn noch war der Sommer nicht vorbei. Also haben wir unsere Gewehre abgelegt und unsere Kleider auch und sind baden gegangen. Später saßen wir nackt auf einem großen, flachen Stein, ließen uns trocknen und hofften, daß einige Vögel vorbeifliegen würden, so daß wir sie ohne aufzustehen abschießen konnten — paff. Karl war damals fünfzehn und ich vierzehn. Ich war größer als er, weil ich schon voll ausgewachsen war, und im Frühjahr hatte ich ihn überholt. Karl war mir noch vor wenigen Jahren so reif und groß erschienen, aber jetzt wirkte er neben mir klein und schmächtig. Lange Zeit sprachen wir auf dem Felsen kein Wort, und dann, als ich gerade daran dachte vorzuschlagen, wir sollten uns anziehen und weitergehen, da drehte Karl sich zu mir hin, und er hatte einen eigentümlichen Blick in den Augen. Ich bemerkte, daß er meinen Körper betrachtete, und da besonders die Leistengegend. Und dann sagte Karl etwas über Mädchen, wie doof sie seien, was sie für dämliche Geräusche machten, wenn man sie bumste, wie satt er es habe, ihnen jedesmal zärtliche Sachen sagen zu müssen, bevor sie einen ranließen, wie sehr ihn ihre trägen, schlaffen Titten langweilen, ihr Make-up, ihr Gekichere, wie sehr es ihn auf die Palme brachte, ihnen eine Cola kaufen zu müssen, ihrem Getratsche zuzuhören und so weiter. Ich lachte und sagte: ‚Nun, Mädchen haben ihre Macken, aber ohne läuft die Chose nicht, oder?’ Und Karl sagte: ‚Nein, das stimmt nicht.’
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