»Habe ich was Falsches gesagt?«
Ywha stand in der Küchentür. Mit trockenen Augen. Aufmerksam und angespannt. Bemerkenswert! Denn Klawdi war felsenfest davon überzeugt gewesen, in seinem Gesicht hätte nicht ein Muskel gezuckt. Offenbar hatte er sich getäuscht. Er hatte sich verraten. Wodurch nur?
»Nein, Ywha, es ist alles in Ordnung. Ich kann nur … Veilchen nicht ertragen.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Verzeihen Sie.«
»Was?«
Sie blickte ernsthaft drein. Traurig und sogar ein wenig mitleidig. »Ich dachte, ich hätte Sie an etwas Schreckliches erinnert. Es wird nicht wieder vorkommen. Verzeihen Sie.«
(Djunka. Mai)
Nachdem er zwei Stunden durch die nächtlichen Straßen gestreift war, befand er sich in einem Zustand krankhafter Verwirrung. Der Rausch war relativ schnell vergangen und an seine Stelle ein widerlicher, gemeiner Schmerz getreten. Sobald er auf das letzte halbe Jahr seines Lebens zurückschaute, schaffte er es nur mit Mühe, den Kopf nicht gegen die nächste Mauer zu knallen.
Mehr als einmal hatten ihn wie wild Autos angehupt, und die Fahrer, denen er vor den Wagen gelaufen war, hatten geflucht und ihm mit Fäusten gedroht. Mehr als einmal hatte Klawdi an das glückselige Nichtsein gedacht, das so einfach unter den Rädern dieser dummen Raser zu finden war. Zuletzt hatte er den Gedanken an Selbstmord als so erstaunlich angenehm empfunden, dass er sich eine heftige Ohrfeige verpassen musste. Was für eine hysterische Geste!
Nachdem der Schmerz des Schlages vergangen war, realisierte Klawdi, dass sich der Wunsch, Hand an sich selbst zu legen, quasi zu einer Krankheit ausgewachsen hatte. Er war zu einer Idee geworden, die ihn nicht mehr losließ. Eine Art Abschiedsgeschenk jenes Abgrunds, in den er sich dann doch nicht gestürzt hatte.
Aber immer noch stürzen konnte. Klaw ballte die Fäuste, bis sich die Fingernägel in die Handteller bohrten.
Djunka.
Du bist doch Djunka, nicht wahr?
Lange blieb er im Hauseingang stehen, und die wenigen Liebhaber nächtlicher Spaziergänge, die das Haus betraten oder verließen, schauten besorgt zu dem seltsamen, reglosen Jungen hinüber.
Später rief er den Fahrstuhl, und irgendwo zwischen dem zehnten und dem vierzehnten Stock fielen ihm die Leere unter dem dünnen Fahrstuhlboden und die beiden massiven Zugstränge ein, die — wie er vorhin gesehen hatte — oben aus dem Schachtboden herausragten.
Er schloss die Tür auf.
Djunka — oder diejenige, die er wie üblich für Djunka hielt — schlief nicht. Vermutlich schlief sie überhaupt nie.
»Klaw?«
Der Ausdruck in ihren Augen fiel ihm wieder ein. Wie sie geguckt hatte, dort oben, auf dem Dach, als sie sich über ihn beugte — über ihn, der jene Grenze immer noch nicht überschritten hatte. Irritiert und verständnislos hatte sie dreingeschaut. Und enttäuscht?
»Ja, ich bin’s«, antworte er tonlos, obwohl Djunka ihn natürlich mit niemandem verwechseln konnte. »Hallo.«
Djunka blinzelte. Wir haben uns lange nicht gesehen, dachte Klaw müde.
»Klaw, du …«
»Antworte mir, Dokija. Sieh mir in die Augen und antworte mir. Willst du mich … zu dir ziehen?«
Schweigen. Er meinte, auf dem Grund ihrer Augen kurz Panik aufflackern zu sehen.
»Willst du meinen Tod? Aber warum? Glaubst du, dann wäre alles besser? Warum bist du nicht auf die Idee gekommen, mich zu fragen, ob ich … mir diesen Lauf der Dinge auch wünsche?«
Schweigen. Djunkas Gesicht wurde nicht weiß, sondern grau, mit einem Stich ins Bläuliche. Das Licht der Scheinwerfer, das sich an der weißen Decke brach, riss mal die scharf hervortretenden Wangenknochen aus dem Halbdunkel, mal den dunklen Streifen der aufeinandergepressten Lippen oder die Augen, die so tief lagen, dass die Höhlen wie runde schwarze Feuer wirkten.
Sie lebte nicht.
Angst peitschte auf ihn ein, verschlug ihm vorübergehend die Sprache, erstickte und lähmte ihn. Klaw biss die Zähne zusammen. Er hatte es auch früher schon gewusst — aber es zu wissen bedeutete eben nicht, auch daran zu glauben.
»Du bist nicht Djunka«, presste er hervor. »Warum hast du mich getäuscht?«
Lautlos flogen ihre feuchten, mit winzigen Eiszapfen behangenen Wimpern auf und ab.
Wenn sie nicht Djunka war, woher kannte sie dann diese Geste?!
»Du bist nicht Djunka«, wiederholte er. »Mach mir nichts vor! Djunka hätte mich nicht … umgebracht.«
Die dunklen Lippen zitterten kaum merklich. Worte kamen jedoch nach wie vor nicht über sie.
»Ich bin selbst schuld«, urteilte er. »Aber ich wollte … Jetzt habe ich keine andere Wahl. Denn ich will leben …«
»Klaw …« Der Ton ihrer Stimme ließ ihn schaudern. »Verzeih mir, ich habe dir nie … Aber überlass mich nicht … denen. Ich liebe dich, Klaw. Das schwöre ich. Liefer mich denen nicht aus. Ich habe Angst …«
»Gibst du zu, dass du nicht Djunka bist? Gibst du es endlich zu?!«
Eine neuerliche Lichterexplosion erhellte zwei funkelnde Schlitze in ihrem Gesicht.
»Ich soll … nicht ich sein? Wenn du es sagst …«
Er wollte schon sagen: Geh dahin, wo du herkommst, ließ es aber. Seine Kehle war zugeschnürt.
»Bleib ruhig hier. Du bist frei … zu tun, was du willst. Aber ich habe Angst vor dir … Djunka. Ich gehe jetzt.«
»Verlass … mich nicht.«
»Ich will leben!«
»Klaw … verlass … mich nicht … lass uns zusammenbleiben. Bitte …«
Sie kam auf ihn zu, streckte die Arme aus. Klaw wich zurück, als sei er geschlagen worden, und stürzte davon, die Tür hinter sich zuknallend.
Er hörte ein ersticktes Stöhnen. Einen ganz und gar unmenschlichen Laut. So schrie nur ein Vampir, dem seine Beute entwischt war.
Gleich darauf vernahm er kindliches Jammern.
Er hatte vergessen, wo der Fahrstuhl war.
Er riss eine Tür auf, stolperte ins Treppenhaus und stürzte nach unten, von einem panischen, Ekel erregenden Entsetzen gepackt. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, war es ein Wunder, dass er nicht stürzte und sich die zitternden Beine brach. Seine Schuhe krachten auf den Betonstufen, und er glaubte, jemand jage ihm durch das Halbdunkel des nächtlichen Treppenhauses nach. Lautlos und schrecklich.
Dann hörte die endlose Treppe auf. In der von Lichtern erhellten Straße war keine Menschenseele. Klaw überquerte die Straße, hastete zum anderen Gehsteig und fiel, da ihm seine Beine den Dienst versagten, auf alle viere.
Ein Bonbonpapier, in den Asphalt getreten. Vermutlich das, das er im letzten Moment vor dem Schritt in den Abgrund erspäht hatte. Ein Zufall?!
Niemand beobachtete ihn. Um diese Zeit konnten ihn höchstens eine Alte, die an Schlaflosigkeit litt, oder Verliebte, die die Nacht mit Liebkosungen verbrachten, entdecken. Und was würden sie schon sehen? Einen jungen Junkie, der durch die verlassene Straße taumelte.
In seiner Nähe gab es drei Telefonzellen. Eine Phalanx, erstarrt in der Erwartung eines Jetons.
Klawdi durchwühlte seine Taschen. Er hatte aber keine Jetons. Allerdings gehörte die Nummer zu den wenigen, die man umsonst anrufen konnte.
Der Schlüssel. Der Schlüssel von der Mietwohnung. Der Schlüssel von der Tür, hinter der schmerzlich stöhnend … Nein, besser, er dachte nicht mehr daran. Der Schlüssel brannte sich in seinen Finger. Bloß weg damit!
Das metallene Bund klimperte in dem eisernen Mülleimer. Klaw empfand keinerlei Erleichterung.
Unerschütterlich hallte der Kosmos in der Telefonzelle wider. Klaw blickte zu dem einzigen Stern hoch, der nicht von Wolken und den hohen Dächern verdeckt war. Wenn das Weltall eine Stimme hätte, wäre es die einer leeren Telefonzelle, und diese Stimme sagte: Wähle!
Vier Zahlen. Jeder Bürger kannte sie: Eins, eins, eins, eins!
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