»Ich habe ihn gesehen«, sagte ich. »Komm weiter.«
Aber schon kniete Cuwignaka zwischen den Toten nieder und wiegte den kleinen Körper in den Armen.
»Gehen wir!« sagte ich.
»Er war noch ein Kind«, sagte er klagend.
Wasnapohdi wandte den Blick ab. Ihr schien übel zu sein. Es war kein hübscher Anblick.
»Wir haben ihn gekannt«, sagte Cuwignaka.
»Dort liegt die Mutter«, sagte ich.
»Wir kannten ihn!« wiederholte mein Freund.
»Ja«, sagte ich beruhigend. Ein kleiner Junge der Kaiila: Cuwignaka und ich hatten ihn gut gekannt. Oft hatten wir für ihn den Reifen geworfen, den er mit seinen kurzen Pfeilen sicher durchschossen hatte.
»Er ist tot«, sagte Cuwignaka.
»Ja«, sagte ich.
»Warum hat man ihm das angetan?« fragte Cuwignaka und wiegte die kleine Leiche in den Armen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. In gewisser Weise konnte ich die Kampfriten der roten Wilden verstehen, soweit sie sich zwischen erwachsenen Kriegern abspielten. Sie gaben einer gewissen Erleichterung Ausdruck, sie waren Zeichen des Lebens, des Sieges, des Triumphs. Nicht verstand ich, daß oft Frauen und Kinder davon betroffen waren.
»Er war doch noch ein Kind«, sagte Cuwignaka verzweifelt. »Warum haben sie das getan?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich ratlos.
»Gelbmesser haben dies getan!« sagte er.
»Vielleicht auch jene Krieger, die man Kinyanpi nennt«, wandte ich ein. »Ich weiß es nicht.«
»Feinde haben dies getan«, sagte Cuwignaka.
»Ja.«
Langsam legte Cuwignaka den toten Jungen hin. Dann schaute er mich an. »Lehre mich zu töten«, sagte er.
»Runter!« flüsterte ich.
Wir lagen hinter dem Zelt. Fünf Gelbmesser passierten uns in schnellem Trab auf den Rücken ihrer Kaiila. Als der letzte vorbei war, trat ich hervor und schoß meinen Pfeil ab.
»Es wird eine Weile dauern, bis sie merken, daß sie nur noch zu viert sind«, sagte ich. »Aber bald brauchen wir Kaiila.«
»Wir werden sie bekommen«, sagte Cuwignaka.
»Oh!« rief die Frau, eine von zwei Sklavinnen, die gefesselt am Boden hockten.
Der Gelbmesser, der sie bewachte, fuhr herum, doch zu spät: Cuwignakas Lanze traf ihn in die Brust.
Die Frau begann zu schreien. Cuwignaka befreite seine Lanze und brachte sie mit einem energischen Schlag an die Schläfe zum Schweigen. Ihr Lärmen hätte andere Gelbmesser herbeirufen können.
»Hier finden wir auch keine Kaiila«, sagte ich und wußte nicht recht, warum Cuwignaka überhaupt Halt gemacht hatte.
»Dies war ein Sammelpunkt oder sollte einer werden«, sagte Cuwignaka und deutete auf die beiden Frauen.
»Du meinst, Mädchen sollen an dieser Stelle deponiert oder von hier abgeholt werden?«
»Ja«, antwortete Cuwignaka. »Und aus der Art der Fesselung, die nicht darauf hindeutet, daß die Mädchen bald fortgeführt werden sollen, ist zu schließen, daß weitere Gefangene hierhergebracht werden.«
»Ich verstehe«, sagte ich. Wir durften also damit rechnen, daß Männer auf Kaiila kommen würden, um weitere Frauen zu bringen, und konnten uns entsprechend in den Hinterhalt legen.
»Wir sollten ein Stück entfernt in Deckung gehen«, sagte ich, »denn die Ankommenden halten vielleicht nach dem Wächter Ausschau.«
»Wir werden Spuren suchen«, sagte Cuwignaka. »Ich glaube nicht, daß das schwierig sein wird.«
»Interessant, daß wir hier einen Wächter vorfanden«, sagte ich. »Der andere Sammelpunkt war unbewacht.«
»Das scheint mir darauf hinzudeuten«, sagte Cuwignaka, »daß wir dem Zentrum des Kaiila-Widerstandes langsam näherkommen.«
»Noch etwa fünf Ahn bis Dunkelwerden«, stellte ich fest.
»Bis dahin, so hoffe ich, haben wir Kaiila und können uns dem Widerstand anschließen«, sagte Cuwignaka.
Ich nickte. Eine Flucht aus dem Lager, womöglich noch mit Flüchtlingen, hatte nach Einbruch der Dunkelheit die größten Chancen.
»Du kannst dich aufrichten«, sagte Cuwignaka zu dem Mädchen, das er eben zum Schweigen gebracht hatte. »Das sieht natürlicher aus.«
»Ja, Herr«, flüsterte sie und kam seinem Befehl nach.
Cuwignaka sah mich verwirrt an und begann zu lächeln. Ganz selbstverständlich hatte ihn das Mädchen als »Herrn« angesprochen.
Die beiden Mädchen hockten nebeneinander und wagten nicht den Blick zu heben.
»Ich finde, wir sollten unseren Freund verschwinden lassen«, schlug ich vor und deutete auf den Gelbmesser.
Cuwignaka, der dem Toten bereits den Skalp genommen hatte, nickte. Es war wirklich nicht ratsam, den Mann hier liegen zu haben, wenn andere Gelbmesser sich der Sammelstelle näherten.
Gleich darauf kehrte Cuwignaka mit leeren Händen zurück.
Kritisch musterte er die Frau, die zu Anfang geschrien hatte und dafür gestraft worden war.
»Verzeih mir, Herr«, flüsterte sie.
»Du bist gefesselt, damit deine Gelbmesser-Herren ihren Spaß mit dir haben können«, sagte Cuwignaka verächtlich und betrachtete ihre wohlgeformte Gestalt.
»Warum sollten Gelbmesser die ersten sein?« fragte ich.
Cuwignaka blickte mich an.
»Hast du schon jemals eine Frau besessen?« fragte ich.
»Nein.«
»Nimm sie«, sagte ich, »ich passe solange auf.«
»Herr, Herr!« schluchzte das Mädchen, und Cuwignaka schien unwillig zu sein, sie aus seinen Armen zu entlassen.
»Ich wußte nicht, daß es solche Freuden gibt«, sagte er schließlich, als er zu mir und Wasnapohdi zurückkehrte. »Was für Gefühle! Was für ein Triumph!«
»Es wird Zeit, daß wir uns Kaiila besorgen«, mahnte ich.
»Wir sollten Spuren suchen«, sagte er.
Aus einiger Entfernung schauten wir noch einmal auf die beiden gefesselten Mädchen am Sammelpunkt zurück.
»Ich hatte keine Ahnung, daß es solche Freuden gibt«, sagte Cuwignaka.
»Sie können so lange oder so kurz, so oberflächlich oder so aufwühlend sein wie du willst«, sagte ich. »Aber vielleicht hättest du die Sklavin doch nicht nehmen sollen«, fügte ich hinzu.
»Warum nicht?«
»Vielleicht hat sie dich für andere Frauen verdorben«, sagte ich.
Die drei gefesselten Mädchen schrien auf.
Der Gelbmesser, der hinter ihnen ritt, glitt vom Rücken seiner Kaiila; ein Pfeil hatte ihn in die Brust getroffen.
Der zweite Gelbmesser senkte seine Lanze in die Angriffsstellung, stieß einen Wutschrei aus und spornte seine Kaiila an. Das Tier stürmte auf Cuwignaka los.
»Halte dich auf der Außenseite seiner Lanze!« brüllte ich. Cuwignaka besaß keinen Schild. Er mußte den Angriff mit der eigenen Lanze ablenken. Mit Schild hätte er den Gegner von innen angreifen können, die Lanze nach links drückend, mit der eigenen Waffe die geöffnete Mitte suchend. Ich setzte einen neuen Pfeil aus der Hand auf die Bogensehne; im Kampf werden gewöhnlich einige Pfeile in der Hand oder im Mund in Bereitschaft gehalten, denn im Zweifel kann der Weg vom Köcher zum Bogen zu lang werden.
Cuwignaka stieß die angreifende Lanze mit seiner Speerspitze zur Seite. Der Angreifer war so schnell gekommen, daß er seine Waffe nicht wieder freibekam. Die Kaiila stoppte in einer Staubwolke, ging auf die Hinterhand nieder und fuhr herum. Ich hob den Bogen – und senkte ihn wieder. Ein genauer Schuß war nicht möglich. Beim zweiten Durchlauf wich Cuwignaka nach rechts aus. Sein Gegner reagierte mit einem Wutschrei, denn er kam mit seiner Lanze nicht über den Hals seiner Kaiila herum. Cuwignakas aufwärts gerichteter Stoß dagegen wurde mühelos von dem Schild des Gelbmessers abgewehrt – einem dicken Schutz aus undurchdringlichem Kailiauk-Nackenleder, durch Erhitzen und Kaltschrumpfen über den Rahmen gespannt.
Wieder senkte ich fluchend meine Waffe und wechselte die Position.
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