Sie wußte, daß er sie liebte. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, daß sie ja Kulan Tith versprochen war. Sie durfte dem jungen Prinzen ganz gewiß keine zu große Dankbarkeit zeigen, denn er hätte sie mißverstehen können.
Carthoris stand dann an ihrer Seite. Mit einem raschen Blick hatte er die Szene in sich aufgenommen – die auf dem Boden liegende bewegungslose Gestalt des Jeddaks, das Mädchen, das einen verdeckten Ausgang zu erreichen versuchte.
»Hat er dir etwas zuleide getan, Thuvia?« fragte Carthoris.
Sie hielt den vom Blut roten Dolch in die Höhe, damit er ihn sehen konnte.
»Nein«, sagte sie. »Er hat mir nichts zuleide getan.«
Carthoris lächelte grimmig. »Gepriesen sei unser erster Ahnherr«, murmelte er. »Und jetzt laß uns sehen, ob wir nicht aus dieser verfluchten Stadt Lothar fliehen können, ehe die Leute hier entdecken, daß ihr Jeddak tot ist.«
Mit jener sicheren Bestimmtheit, die ihm so gut anstand, weil in seinen Adern das Blut John Carters aus Virginia und das der Dejah Thoris aus Helium floß, griff er nach ihrer Hand und zog Thuvia mit sich zur großen Tür, durch die Jav sie beide vor kurzem vor den Jeddak geführt hatte.
Fast hatten sie diese Tür schon erreicht, als durch einen anderen Eingang eine Gestalt sprang. Es war Jav. Auch er überschaute die Szene mit einem einzigen Blick.
Carthoris drehte sich zu ihm um. Sein Schwert lag stoßbereit in seiner Hand, und mit seinem großen Leib schirmte er die schlanke Mädchengestalt ab.
»Komm her, Jav von Lothar!« rief er ihm zu. »Wir wollen es gleich hinter uns bringen, denn nur einer von uns beiden verläßt diesen Saal lebend mit Thuvia von Ptarth.« Er sah aber, daß der Mann kein Schwert hatte. »Nun, so bring doch deine Bogenschützen an! Oder komm als mein Gefangener mit mir, bis wir die Tore eurer geisterhaften Stadt passiert haben!«
»Du hast Tario getötet!« rief Jav, ohne auf die Herausforderung des Prinzen zu hören. »Du hast Tario getötet! Ich sehe sein Blut auf dem Boden. Wirkliches Blut. Und es ist ein echter Tod. Dann war also Tario ebenso echt wie ich es bin. Und doch war er ein Ätheralist… Er wollte seine Nahrung nicht materialisieren…
Ist es möglich, daß solche Leute echt sind? Nun, wir sind es jedenfalls, wir Realisten. Und die ganze Zeit hindurch haben wir gestritten, weil wir uns nicht darüber einig werden konnten, wer recht hat! Jeder von uns sagte, der andere habe unrecht…
Nun ja, jedenfalls ist er jetzt tot. Eigentlich bin ich recht froh darüber. Jetzt kommt endlich Jav an die Reihe. Nun wird Jav der Jeddak von Lothar!«
Aber Jav hatte noch nicht recht zu reden aufgehört, als Tario die Augen öffnete und sich aufsetzte.
»Verräter! Mörder!« schrie er. »Kadar! Kadar!« Ein Kadar ist ein Leibwächter auf Barsoom.
Jav wurde kreidebleich. Er ließ sich auf den Boden fallen und kroch auf dem Bauch zu seinem Jeddak.
»Oh, mein Jeddak, mein Jeddak!« winselte er. »Jav hat keine Hand in diesem Spiel! Jav ist dein treuester Diener, der in diesem Augenblick deinen Thronsaal betrat, dich auf dem Boden liegend vorfand und die beiden Fremden dabei erwischte, als sie zu flüchten versuchten. Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte, mein Jeddak. Glaub mir, glorreicher Tario, größter und letzter aller Jeddaks!«
»Halt den Mund, du elender Verräter«, fuhr ihn Tario an. »Ich hörte doch deine Worte, du Lügner. Du hast gesagt: ›Nun ja, jedenfalls ist er jetzt tot. Eigentlich bin ich recht froh darüber.
Jetzt kommt endlich Jav an die Reihe. Nun wird Jav der Jeddak von Lothar‹
Endlich habe ich dich entlarvt, du Lügner und Verräter. Deine eigenen Worte haben dich verdammt. Und nicht nur dich, sondern auch diese beiden rothäutigen Kreaturen, wenn nicht…« Er machte eine Pause und leckte sich die Lippen. »Wenn nicht die Frau…«
Weiter kam er nicht. Carthoris wußte genau, was er gesagt hätte, und ehe er diese Worte noch aussprechen konnte, hatte er schon dem Jeddak von Lothar eine ganz gewaltige Ohrfeige versetzt.
Tario schäumte vor Wut.
»Und solltest du die Prinzessin von Ptarth noch einmal beleidigen«, warnte der Prinz von Helium, »dann werde ich vergessen, daß du kein Schwert trägst. Mich juckt nämlich jetzt schon meine Schwerthand, und ich weiß nicht recht, wie lange ich sie noch beruhigen kann.«
Tario zog sich langsam zu den kleinen Ausgängen hinter der Estrade zurück. Er versuchte etwas zu sagen, aber seine Gesichtsmuskeln zuckten derart schrecklich, daß er einige Minuten lang kein Wort herausbrachte. Dann stotterte er erst noch eine ganze Weile.
»Stirb!« schrie er endlich. »Stirb!« Und dann drehte er sich zu den Ausgängen um.
Jav rannte ihm nach und schrie dabei vor Entsetzen.
»Hab Mitleid, Tario! Hab doch Mitleid! Denk doch an die lange Zeit, die ich dir treu gedient habe. Denk doch an alles, was ich für Lothar getan habe. Rette mich! Verdamme mich nicht zu einem so schrecklichen Tod! Rette mich! Rette mich!«
Aber Tario lachte nur höhnisch und hob den Wandbehang auf, der die kleine Tür verdeckte.
Jav wandte sich zu Carthoris um.
»Halt ihn auf!« kreischte er. »Du mußt ihn aufhalten! Wenn dir dein Leben lieb ist, darfst du ihn nicht aus diesem Raum hinausgehen lassen!« Und mit diesen Worten rannte er seinem Jeddak nach.
Carthoris folgte Javs Beispiel, aber der letzte der Jeddaks von Barsoom war zu flink für beide. Als sie nämlich die kleine Tür erreichten, durch die er verschwunden war, fanden sie, daß eine schwere Steintür ihnen den Weiterweg versperrte.
Jav sank, von Entsetzen geschüttelt, zu Boden.
»Mensch, wir sind doch noch nicht tot!« rief Carthoris.
»Reiß dich zusammen! Wir wollen auf die Straße laufen und versuchen, die Stadt zu verlassen. Wir leben doch noch! Und solange wir leben, müssen wir versuchen, unser Schicksal fest in die Hand zu nehmen und es selbst zu bestimmen. Wofür soll es gut sein, wenn du dich rückgratlos auf den Boden fallen läßt? Komm, sei doch ein Mann!« Aber Jav schüttelte nur den Kopf.
»Hast du denn nicht gehört, wie er seine Leibwache rief?« ächzte er. »Ah, wenn wir ihn nur hätten aufhalten können! Dann hätten wir wenigstens hoffen können. Aber leider – er war viel zu flink für uns.«
»Na, schön«, antwortete Carthoris ungehalten. »Und wenn er die Leibwache rief? Wenn sie kommen, haben wir immer noch Zeit genug, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Im Moment glaube ich noch gar nicht daran, daß sie’s wirklich so schrecklich eilig haben, dem Ruf ihres Jeddaks zu folgen.« Jav schüttelte betrübt den Kopf.
»Das verstehst du nicht«, sagte er. »Die Leibwache war schon da – und ist schon wieder weg. Sie haben ihre Arbeit getan, und wir sind verloren. Schau dir doch einmal die verschiedenen Ausgänge an.« Carthoris und Thuvia wandten sich zu den Türen um und stellten fest, daß alle mit riesigen Steinquadern verschlossen waren. »Na, und?« fragte Carthoris. »Wir müssen sterben«, flüsterte Jav matt.
Mehr wollte er nicht sagen. Er setzte sich auf die Kante von des Jeddaks Couch und wartete.
Carthoris trat neben Thuvia und hatte sein blankes Schwert in der Hand. Unablässig suchte er mit den Augen den ganzen Saal ab, damit nicht unbemerkt ein Feind auf sie eindringen konnte. Die Minuten erschienen ihnen wie Stunden, und nichts durchbrach die Grabesstille. Von nirgendwoher wurde ihnen ein Zeichen dafür gegeben, wann und auf welche Art sie den Tod zu erwarten hatten.
Die Spannung war fast unerträglich. Selbst Carthoris von Helium spürte, wie sie an seinen Nerven zerrte. Wenn er nur geahnt hätte, wie und wann der Tod zuschlagen würde! Er wäre ihm ganz sicher furchtlos gegenübergetreten. Die Pläne des Mörders nicht zu kennen und endlos lange auf das Verhängnis warten zu müssen, war mehr als er ertragen zu können glaubte.
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