Die Ätheralisten bestehen darauf, daß es so etwas wie Materie überhaupt nicht gibt, daß alles nur Geist ist. Sie sagen, keiner von uns existiere oder nur in der Fantasie seiner Gefährten.
In Wirklichkeit sei jeder nur eine ungreifbare, unsichtbare Mentalität.
Wenn Tario recht hat, dann ist es nur nötig, daß sich alle bei uns vorstellen, es gebe keine toten Torquasianer jenseits unserer Mauern, und dann seien auch wirklich keine da. Deshalb brauchten wir auch keine aasfressenden Banths.«
»Du glaubst also nicht an das, was Tario glaubt?« rief Carthoris.
»Nur teilweise«, erwiderte der Lotharianer. »Ich glaube, das heißt, ich weiß es sogar, daß es wirklich ätherische Kreaturen gibt. Tario ist eine, davon bin ich überzeugt. Er existiert nicht – außer in der Einbildung seines Volkes.
Wir Realisten sind natürlich davon überzeugt, daß alle Ätheralisten nur Produkte der Einbildungskraft sind. Sie behaupten nämlich, daß keine Nahrung nötig sei, und sie essen auch nicht. Aber jeder von uns, der wenigstens mit einer ganz rudimentären Intelligenz ausgestattet ist, muß doch zugeben, daß Nahrung nötig ist für Kreaturen, die wirklich existieren.«
»Ja, natürlich«, pflichtete ihm Carthoris bei. »Ich weiß das recht genau, denn ich habe heute noch keinen Happen gegessen.«
»Oh, verzeih bitte!« rief Jav. »Bitte, nimm doch Platz und stille deinen Hunger!« Mit einer auffordernden Handbewegung wies er auf einen üppig beladenen Tisch hin, der in dem Augenblick, als er sprach, noch nicht dagestanden hatte. Das hätte Carthoris beschwören mögen, denn er hatte sich recht genau im Raum umgesehen. »Du hast Glück gehabt, daß du nicht in die Hände der Ätheralisten gefallen bist«, fuhr Jav fort. »Da hättest du nämlich hungern müssen.«
»Aber das ist doch keine echte Nahrung!« rief Carthoris. »Der Tisch stand vor einem Augenblick noch nicht da, und richtige, echte Nahrung materialisiert sich nicht aus der leeren Luft heraus.«
Jav sah sehr gekränkt drein.
»In Lothar gibt es keine echte Nahrung und kein echtes Wasser«, erklärte er. »Seit unendlichen Zeiten gibt es das nicht mehr. Von dem, was du hier siehst, existieren wir seit grauer Vorzeit. Und du kannst ebenso gut davon existieren wie wir.«
»Und ich dachte, doch, du hättest vorher behauptet, ein Realist zu sein?« rief Carthoris.
»Aber«, rief Jav. »was kann denn noch wirklicher sein, als diese üppige Mahlzeit hier? Siehst du, darin liegt der Unterschied zwischen uns Realisten und den Ätheralisten. Sie behaupten, es sei völlig unnötig, sich Nahrung vorzustellen, aber wir haben gefunden, daß es zur Erhaltung des Lebens nötig ist, dreimal am Tag eine herzhafte Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Die Nahrung, die man zu sich nimmt, wird während des Verdauungsprozesses gewissen chemischen Veränderungen unterworfen. Sie wird in ihre Bestandteile aufgespalten, und das Ergebnis davon ist die Erhaltung und Neubildung von Gewebe.
Nun wissen wir aber, daß der Geist alles ist. Natürlich gehen die Interpretationen über seine verschiedenen Manifestationen ein wenig auseinander. Tario ist der Meinung, so etwas wie Substanz gebe es nicht. Alles sei nur eine Schöpfung des substanzlosen Gehirns.
Wir Realisten wissen das jedoch besser. Wir wissen zum Beispiel, daß der Geist die Fähigkeit hat. Substanz zu erhalten, wenn er sie auch nicht schaffen kann. Nun, letzteres ist vermutlich noch eine recht offene Frage. Wir wissen daher auch, daß wir zu Erhaltung unserer physischen Körper dafür sorgen müssen, daß alle Organe so funktionieren, wie sie sollen.
Das erreichen wir durch eine Materialisierung der Essens-Gedanken und dadurch, daß wir die damit geschaffene Nahrung auch zu uns nehmen. Wir kauen, wir schlucken, wir verdauen.
Alle unsere Organe funktionieren genauso, als hätten wir eine echte Mahlzeit zu uns genommen. Und was ist das Ergebnis?
Es kann kein anderes geben… Die chemischen Veränderungen werden vollzogen durch direkte und indirekte Suggestion, und wir leben und erhalten uns auch am Leben.«
Carthoris musterte mißtrauisch die vor ihm stehende Mahlzeit.
Sie schien sehr echt zu sein. Er hob ein Stückchen davon an seine Lippen. Es hatte tatsächlich Substanz. Und Geschmack! Jawohl, auch sein Gaumen ließ sich täuschen und davon überzeugen.
Jav beobachtete ihn lächelnd, während er aß.
»Ist das nicht sehr zufriedenstellend?« fragte er.
»Ich gebe zu, daß es eine ausgezeichnete und sättigende Mahlzeit ist«, antwortete Carthoris. »Aber sag mir doch, wie leben Tario und die anderen Ätheralisten, die der Überzeugung sind, Nahrung sei überflüssig?«
Jav kratzte sich nachdenklich den Kopf.
»Über diese Frage diskutieren wir recht häufig«, gab er zu.
»Sie ist praktisch unser stärkster Beweis gegen die Ätheralisten: aber wer soll das sonst wissen als Komal?«
Jav beugte sich tief hinunter zum Ohr des sitzenden Prinzen, schaute sich aber vorher noch ängstlich um.
Jav beugte sich tief hinunter zum Ohr des sitzenden Prinzen, schaute sich aber vorher noch ängstlich um.
»Komal ist die Essenz«, flüsterte er. »Selbst die Ätheralisten müssen zugeben, daß der Geist Substanz braucht, um der Vorstellungskraft die Erscheinung der Substanz zu vermitteln.
Gäbe es nämlich keine Substanz, so könnte sie ja auch nicht suggeriert werden. Was nie war, kann man sich auch nicht vorstellen. Kannst du mir folgen?«
»Oh, ich komme mit«, erwiderte Carthoris trocken.
»Also muß die Essenz eine Substanz sein«, fuhr Jav fort. »
Komal ist die Essenz des All, so wie es ist. Er wird von der Substanz erhalten. Er ißt. Er ißt die Wirklichkeit. Um genau zu sein – er ißt die Realisten. Und das ist Tarios Werk.
Er sagt nämlich, wenn wir schon behaupten, daß wir allein Wirklichkeit seien, dann müßten wir konsequent bleiben und zugeben, daß wir auch die einzig wahre Nahrung für Komal wären. Manchmal, so wie heute, finden wir andere Nahrung für ihn Torquasianer sind seine Leibspeise.«
»Und Komal ist ein Mensch?« wollte Carthoris wissen.
»Er ist das All, das sagte ich dir doch«, entgegnete Jav »Ich weiß nicht, wie ich es dir mit Worten begreiflich machen soll.
Er ist der Anfang und das Ende. Alles Leben entströmt Komal, denn die Substanz, die das Gehirn mit Vorstellungskraft ernährt, strahlt vom Leib Komals aus.
Sollte Komal einmal zu essen aufhören, dann würde alles Leben auf Barsoom aufhören. Er kann nicht sterben, aber er könnte zu essen aufhören. Tut er das, dann könnte er auch nicht mehr strahlen.«
»Und er nährt sich von Menschen? Von Männern und Frauen eures Glaubens?«
»Frauen?« tat Jav erstaunt. »Frauen? Es gibt keine Frauen in Lothar. Das letzte weibliche Wesen ist schon seit unendlich langer Zeit auf einer grausamen, schrecklichen Reise über die sumpfigen Ebenen an der austrocknenden See verschwunden. Damals jagten uns die grünen Horden quer über diese Welt zu unserem letzten Versteck, unserer uneinnehmbaren Festung Lothar.
Wir waren eine Rasse von unzähligen Millionen. Kaum zwanzigtausend Männer erreichten lebend Lothar. Es gab keine Frauen und Kinder mehr. Alle waren unterwegs umgekommen.
Die Zeit ging weiter, und einer nach dem anderen starb.
Unsere Rasse ging immer mehr dem Auslöschen entgegen.
Da wurde uns die Große Wahrheit enthüllt, daß der Geist das All ist. Noch viele starben, ehe wir unsere Kraft entwickelten, aber schließlich gelang es uns, den Tod zu besiegen, als wir ganz begriffen hatten, daß der Tod nur ein Zustand des Geistes ist.
Dann kam die Erschaffung der Geist-Leute, oder besser gesagt: die Materialisierung der Vorstellungen. Zum erstenmal benützten wir diese Erkenntnis praktisch, als die Torquasianer unser Versteck entdeckten, und zum Glück für uns brauchten sie für ihre Suche Jahrhunderte, bevor sie den einzigen winzigen Zugang zum Tal Lothar entdeckten.
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