Andererseits konnten die in einer so tiefen Höhle verborgenen historischen Geheimnisse auch von technischem Wert sein, zum Beispiel, wenn es sich um vergessene, aber für die Gegenwart nützliche Erfindungen handelte.
Kluge Vorsicht hätte in diesem Fall geboten, auf eine weitere Erforschung zu verzichten. Doch weshalb sollte ein Forscher mit seiner eigenen Person so vorsichtig umgehen? Wenn Millionen von Menschen riskante Arbeiten und Experimente durchführten, wenn Dar Weter mit seinen Leuten in einer Höhe von siebenundfünfzigtausend Kilometern über der Erde arbeitete und Erg Noor sich auf eine Reise ohne Rückkehr vorbereitete! Keiner der beiden, die Weda so sehr verehrte, würde zurückscheuen… Und schließlich auch sie nicht…
Reservebatterien, eine elektronische Kamera, zwei Sauerstoffgeräte… und sie und Miiko, die keine Furcht kannte, würden zu zweit hinuntergehen und die Kollegen zur Untersuchung des dritten Saales zurücklassen.
Weda Kong riet ihren Mitarbeitern, sich zu stärken. Sie holten ihre Lunchplatten hervor, die aus leicht verdaulichen Eiweißen, Zuckern bestanden, sowie aus Präparaten aus Vitaminen, Hormonen und Nervenstimulanzien, die die Ermüdungstoxine zerstörten. Weda war nervös und ungeduldig und wollte nichts essen. Nach vierzig Minuten kam Miiko endlich zurück. Sie hatte offensichtlich der Versuchung nicht widerstehen können, rasch einige Schränke zu durchstrahlen, um deren Inhalt zu untersuchen.
Die Nachfahrin der japanischen Perltaucherinnen dankte ihrer Expeditionsleiterin mit einem Blick für ihre Geduld und war im Handumdrehen fertig.
Die dünnen roten Kabel liefen in der Mitte des Gangs entlang. Das blassviolette Licht der selbstleuchtenden Gaslampen, die jede der Frauen wie eine Krone auf dem Kopf trug, konnte das jahrtausendealte Dunkel vor ihnen nicht durchdringen. Der Gang fiel immer steiler abwärts, dumpf und gleichmäßig tropften riesige kalte Tropfen von der Decke. Von den Seiten und von unten vernahmen sie das Plätschern von Wasser, das in Rinnen dahinfloss. Die feuchtigkeitsschwangere Luft stand bleiern in dem dunklen unterirdischen Gewölbe. Nur in einer Höhle herrschte eine solche Stille — dort, wo die tote und träge und gefühllose Materie der Erdkruste über sie wachte. Draußen, in der freien Natur, konnte man, so tief das Schweigen auch sein mochte, wenigstens verborgenes Leben, die Bewegung von Luft, Licht oder Wasser immer erahnen.
Miiko und Weda fühlten sich unwillkürlich wie hypnotisiert von der tiefen Höhle, die sie tief in den schwarzen Schoß der Erde zog, als versänken sie in den Abgründen der toten Vergangenheit, die von der Zeit ausgelöscht, nur in den gespenstischen Gebilden der Fantasie weiterlebte.
Der Abstieg ging rasch vonstatten, obgleich der Boden des Gangs mit einer dicken glitschigen Lehmschicht bedeckt war. An manchen Stellen versperrten ihnen lose Felsblöcke den Weg, und sie mussten sich durch den Spalt zwängen, der zwischen Decke und Fels frei geblieben war. In einer halben Stunde waren Miiko und Weda hundertneunzig Meter weit gekommen und hatten eine glatte Wand erreicht, vor der die beiden Erkundungskarren friedlich lagen. Nur ein Lichtstrahl genügte, um in der Wand eine massive und hermetisch abgeschlossene Tür aus rostfreiem Stahl zu erkennen. In der Mitte der Tür waren zwei konvexe Kreise mit Zeichen, vergoldete Zeiger und Hebel angebracht. Das Schloss öffnete sich auf eine bestimmte Signalkombination hin. Die beiden Archäologinnen kannten diese Art von Schließanlagen, jedoch stammten sie aus einer früheren Epoche. Nach kurzer Beratung begannen Weda und Miiko das Schloss zu untersuchen. Es ähnelte jenen boshaft cleveren Konstruktionen, mit welchen die Menschen einst „Fremde“ von ihren Schätzen fernzuhalten versuchten — in der Ära der Uneinigen Welt teilten die Menschen ihre Umwelt in „eigene“ und „fremde“ Leute ein. Die Forscherinnen wussten, dass der Versuch, eine solche Tür zu öffnen, oft massive Abwehrmechanismen aktivierte — Explosivgeschosse wurden abgefeuert, Giftgase oder blind machende Strahlen ausgespien. Schon so mancher Forscher war bei derartigen Versuchen ums Leben gekommen.
Diesen Spezialschlössern aus beständigen Metallen oder hoch entwickelten Kunststoffen konnten ein paar Jahrtausende nichts anhaben — eine große Anzahl von Menschen musste ihr Leben lassen, bevor die Archäologen herausgefunden hatten, wie man solche Stahltüren entschärfte.
Offensichtlich war auch diese Tür nur mit Spezialwerkzeug zu öffnen. Kurz vor der Entdeckung des größten Geheimnisses der Höhle waren Weda und Miiko nun gezwungen umzukehren. Denn wer konnte noch daran zweifeln, dass hinter der Stahltür das für die Menschen der Vergangenheit Größte und Wertvollste verborgen lag? Weda und Miiko machten ihre Taschenlampen aus und setzten sich allein im Schein ihrer Kronen nieder, um etwas zu essen.
„Was kann nur dort drinnen sein?“, seufzte Miiko, den Blick noch immer auf die hochmütig glänzenden, goldenen Zeichen geheftet. „Als ob sie sich über uns lustig machen wollten: ›Ich lasse euch nicht ein, ich gebe nichts preis…‹“
„Was haben Sie eigentlich bei der Durchstrahlung der Schränke im zweiten Saal entdeckt?“, entgegnete Weda, um ihren primitiven und unsinnigen Ärger über das unerwartete Hindernis zu vertreiben.
„Konstruktionspläne von Autos, Bücher, aber nicht auf altem Holzpapier, sondern auf Metallfolien; irgendwelche Filmrollen, Aufzeichnungen, Stern- und Erdkarten.“
„Im ersten Saal Prototypen von Autos, im zweiten die technischen Unterlagen dazu, im dritten — wie könnte man es nennen — Kostbarkeiten einer Epoche, in der das Geld noch regierte. Was wollen Sie, das alles entspricht dem üblichen Schema.“
„Wo aber liegt das verborgen, was wir als Kostbarkeiten betrachten würden?“, rief Miiko aus. „Die höchsten Errungenschaften der geistigen Entwicklung der Menschheit: der Wissenschaft, der Kunst, der Literatur?“
„Ich hoffe, hinter dieser Tür“, antwortete Weda ruhig. „Obwohl ich keineswegs verwundert wäre, wenn wir dort Waffen fänden.“
„Was? Was haben Sie gesagt?“
„Rüstungsgüter, Massenvernichtungsmittel.“
Die kleine Miiko überlegte, ihr Gesicht wurde traurig.
„Ja, wenn man den Zweck dieses Verstecks bedenkt, dann klingt es logisch“, sagte sie leise. „Hier wurden die wesentlichen technischen und materiellen Kostbarkeiten der westlichen Zivilisation vor einer möglichen Vernichtung in Sicherheit gebracht. Doch was galt damals als wesentlich, zu einer Zeit, als es noch keine gesamtplanetarische öffentliche Meinung oder wenigstens eine friedliche Übereinkunft unter den Völkern gab? Die Notwendigkeit und Wichtigkeit einer Sache wurde von der jeweils herrschenden Gruppe von Menschen festgelegt, die durchaus nicht immer kompetent waren. Deshalb wird hier mit Sicherheit nicht das verborgen liegen, was für die Menschen wirklich von größtem Wert war, sondern das, was die eine oder andere Gruppe eben für das Wertvollste hielt. Sie waren vor allem darauf bedacht, Autos und möglicherweise auch Waffen in Sicherheit zu bringen, da sie nicht begriffen, dass sich eine Zivilisation ähnlich wie ein lebendiger Organismus entwickelt.“
„Ja, nämlich durch den Zuwachs und die Aneignung von Arbeitserfahrung, Wissenschaft, Technik, von Vorräten an Materialien, reinsten chemischen Substanzen und Bauten. Die Wiederherstellung einer zerstörten hohen Zivilisation wäre infolge des Mangels an hochfesten Legierungen, seltenen Metallen, Maschinen mit großer Produktivität und hoher Präzision undenkbar. Wenn all das zerstört wäre, wo sollte man dann die Materialien, die Erfahrung und die Fertigkeiten hernehmen, immer kompliziertere kybernetische Maschinen zu bauen, die die Bedürfnisse von Milliarden von Menschen befriedigen könnten?“
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