Dar Weter blickte auf die dicken Ausstülpungen über den Brauen, die ein Ausdruck der stumpfsinnigen Wildheit des Reptils der Permzeit waren, und dachte an die geschmeidige Weda mit ihren klaren Augen in einem intelligenten, lebhaften Gesicht… Was für ungeheure Unterschiede in der Organisation lebendiger Materie es gab! Unwillkürlich schielte er zu Weda hinüber und versuchte ihre Gesichtszüge unter dem Helm zu erkennen, und als er sich endlich wieder dem Bildschirm zuwandte, war das Bild bereits von einem anderen abgelöst worden. Der breite, parabolische, tellerflache Schädel einer Amphibie, eines urweltlichen Salamanders, war zu erkennen, dazu verurteilt, in dem warmen und dunklen Wasser eines Sumpfes der Permzeit auf der Lauer zu liegen, bis etwas Essbares in erreichbare Nähe kam. Ein rascher Ruck, der breite Rachen schnappte zu, und… von Neuem unendlich geduldiges, sinnloses Auf-der-Lauer-Liegen. Dar Weter war irgendwie verärgert, fühlte sich von den Zeugnissen der unendlich langwierigen und unerbittlichen Evolution des Lebens bedrückt. Er richtete sich auf, und Liao Lan, der ihm seinen Gemütszustand ansah, schlug ihnen vor, ins Haus zurückzukehren und sich auszuruhen. Weda mit ihrem unstillbaren Wissensdurst konnte sich nur mit Mühe vom Bildschirm losreißen. Sie bemerkte, dass sich die Wissenschaftler beeilten, die Geräte für die Elektronenfotografie und die simultane Tonaufzeichnung einzuschalten, um den starken Strom nicht sinnlos zu vergeuden.
Bald darauf lag Weda auf einem breiten Diwan im Gästezimmer der Frauenunterkunft. Dar Weter dagegen wanderte noch eine Weile auf dem glatt gewalzten Platz vor dem Haus auf und ab und versuchte in Gedanken seine Eindrücke zu ordnen.
Der nördliche Morgen hatte das am Vortag verstaubte Gras wieder taufrisch gewaschen. Der unerschütterliche Liao Lan war von der nächtlichen Arbeit zurückgekehrt und schlug vor, seine Gäste auf einer „Elfe“ — einem kleinen, batteriebetriebenen Auto — zum nächsten Flughafen zu bringen. Ungefähr hundert Kilometer südöstlich lag am Unterlauf des Trom-Jugan-Flusses ein Flugplatz für springende Flugzeuge. Weda bat, eine Funkverbindung zu ihrer Expedition herstellen zu dürfen, aber die Paläontologen hatten keinen ausreichend starken Funksender im Lager. Seit die Schädlichkeit von Radiostrahlen erkannt worden war und man strengere Vorschriften erlassen hatte — die nun schon seit Generationen galten —, benötigte man für die Übertragung von Nachrichten kompliziertere Anlagen, vor allem was Ferngespräche betraf. Außerdem war die Zahl der Sendestationen stark reduziert worden. Liao Lan beschloss, eine Verbindung zu dem nächsten Beobachtungsturm der Viehzüchter herzustellen. Diese Türme standen untereinander durch Richtfunk in Verbindung und konnten jede beliebige Nachricht an die Zentralstation in ihrem Gebiet weiterleiten. Eine junge Praktikantin, die sich erbot, die „Elfe“ zu lenken, um sie wieder zurückzubringen, schlug vor, auf dem Weg einen solchen Turm aufzusuchen: Dann könnten die Gäste selbst über das Televideofon sprechen. Dar Weter und Weda stimmen dem Vorschlag erfreut zu. Ein starker Wind trieb Staubwirbel über den Boden und zerzauste das dichte, kurz geschnittene Haar des Mädchens. Sie fanden kaum Platz in dem engen Dreisitzer — der massige Körper des ehemaligen Leiters der Außenstationen zwängte seine Begleiterinnen zusammen. Die feine Silhouette des Beobachtungsturmes hob sich zunächst kaum gegen den klaren blauen Himmel ab, aber schon nach kurzer Zeit blieb die „Elfe“ am Fuße des Turmes stehen. Weit auseinanderstehende Metallstreben trugen eine Plattform aus Plastik, unter der ebenfalls eine „Elfe“ geparkt war. In der Mitte der Plattform verliefen die Leitschienen eines Liftes. Eine winzige Kabine brachte sie einen nach dem anderen an der Wohnetage vorbei zur Spitze des Turms, wo sie von einem braun gebrannten, fast nackten jungen Mann begrüßt wurden. Aus der plötzlichen Verlegenheit ihrer sonst so selbstbewussten Fahrerin schloss Weda, dass die Findigkeit und Hilfsbereitschaft der jungen Frau tiefere Wurzeln hatte…
Das runde Zimmer mit seinen Kristallglaswänden schwankte merklich, und der leichte Turm summte eintönig wie eine straff gespannte Saite. Die Decke und der Fußboden des Zimmers waren in dunklen Farben gehalten. Entlang der Fenster standen schmale Tische mit Ferngläsern, Rechenmaschinen und Notizheften. Aus dieser Höhe von neunzig Metern konnte man ein riesiges Steppengebiet bis hin zur Sichtgrenze der Nachbartürme überschauen. Von hier aus wurden die Herden ständig überwacht und Buch über die Futtervorräte geführt. Wie grüne konzentrische Kreise lagen die Melkkarusselle in der Steppe, durch die das Milchvieh zweimal täglich getrieben wurde. Die Milch, die wie jene der afrikanischen Antilopen nicht sauer wurde, goss man in Container und fror sie an Ort und Stelle in unterirdischen Kühlkammern ein, wo sie sich sehr lange hielt. Weitergetrieben wurden die Herden mithilfe von „Elfen“, über die jeder Turm verfügte. Die Beobachter konnten sich während ihrer Dienstzeit mit anderen Dingen beschäftigen, deshalb war der Großteil von ihnen junge Leute, die ihr Studium noch nicht abgeschlossen hatten. Der junge Mann brachte Weda und Dar Weter auf einer Wendeltreppe in die Wohnetage, die einige Meter tiefer zwischen zwei sich kreuzenden Streben frei schwebte. Die Wände des Raumes waren schalldicht, sodass die Reisenden von vollkommener Stille umgeben waren. Nur das ständige Schwanken erinnerte sie daran, dass sich der Raum in einer Höhe befand, die bei der geringsten Unvorsichtigkeit den Tod bedeuten konnte.
Ein anderer junger Mann arbeitete gerade an der Funkanlage. Die komplizierte Frisur und das grellfarbene Kleid seiner Gesprächspartnerin auf dem Bildschirm zeigten, dass er mit der Funkzentrale sprach — die Frauen, die in der Steppe arbeiteten, trugen leichte, kurze Overalls. Auf Wedas Bitte hin schaltete das Mädchen in der Zentrale zur Station des Expeditionsgebietes um, und wenig später erschien das traurige Gesicht und die kleine Gestalt von Miiko Eygoro, Weda Kongs Oberassistentin, auf dem Bildschirm. In ihren dunklen, leicht schräg gestellten Augen, wie die von Liao Lan, war freudige Verwunderung zu lesen, und der kleine Mund war vor Überraschung halb geöffnet. Aber einen Augenblick später sahen Weda und Dar Weter sich wieder dem leidenschaftslosen Gesicht der Vermittlerin aus der Zentrale gegenüber, das nichts außer sachliche Aufmerksamkeit ausdrückte. Dar Weter ging nach oben und fand die junge Paläontologin in ein lebhaftes Gespräch mit dem braun gebrannten jungen Mann vertieft vor. Er trat auf den Balkon hinaus, der den gläsernen Raum umgab. Die feuchte morgendliche Frische war längst einer drückenden Mittagshitze gewichen, die den Farben ihre Leuchtkraft genommen und alle Unebenheiten des Bodens verwischt hatte. Unter dem heißen klaren Himmel war weit und breit nur Steppe zu sehen. Dar Weter wurde wiederum von einer undefinierbaren Sehnsucht nach der rauen nördlichen Erde seiner Vorfahren gepackt. Seine Ellbogen auf die schwankende Balkonbrüstung gestützt, fühlte der ehemalige Leiter der Außenstationen mehr als je zuvor, in welchem Maße sich der Traum seiner Urahnen erfüllt hatte. Die raue Natur war durch Menschenhand weit nach Norden zurückgedrängt worden, und die belebende Wärme des Südens ergoss sich über die Ebenen, die einst unter einem kalten, wolkigen Himmel gefroren hatten.
Weda Kong trat in den Kristallraum und teilte der Praktikantin mit, dass der junge Funker sie weiterbringen werde. Mit einem langen, bedeutungsschweren Blick bedankte sich die junge Frau bei der Altertumsforscherin, während hinter der durchsichtigen Wand noch immer der breite Rücken des in Gedanken versunkenen Dar Weters aufragte.
„Sie denken nach?“, hörte er hinter sich fragen. „Vielleicht über mich?“
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