Dann schaltete sich Weda Kong in die Diskussion ein. Lange hatte sie mit brennenden Augen auf den dunklen Hügel des Kurgans gestarrt und versucht, geistig in die tiefsten Tiefen der Vergangenheit einzudringen.
„Versuchen Sie, diese Menschen zu verstehen. Die Weiten der Steppen waren für sie tatsächlich grenzenlos. Die einzigen Fortbewegungsmittel, die sie kannten, waren Pferde, Kamele und Ochsen. Diese gigantischen Weiten hier wurden von einzelnen Gruppen viehzüchtender Nomaden bewohnt, die nicht nur keinerlei Gemeinsamkeit hatten, sondern sogar in erbitterter Feindschaft lebten. Hass und Groll stauten sich von Generation zu Generation auf; jeder Fremdling war ein Feind, jeder andere Stamm eine legitime Beute, die Herden und Sklaven versprach, das heißt, es waren Menschen, die wie Vieh unter dem Druck der Knute arbeiteten. Eine solche Gesellschaftsordnung bedeutete auf der einen Seite eine ungeheure, uns gänzlich unbekannte Freiheit für den Einzelnen, was seine kleinen Freuden und Wünsche anging, und auf der anderen Seite eine unglaubliche Beschränktheit im Umgang der Menschen miteinander, eine erschreckende Engstirnigkeit. Bestand eine Völkerschaft oder ein Stamm aus einer kleinen Zahl von Menschen, die in der Lage waren, sich von der Jagd und dem Sammeln von Früchten zu ernähren, so lebten diese freien Nomaden in ständiger Angst vor Überfällen, Versklavung oder Vernichtung durch ihre kriegslüsternen Nachbarn. War aber ein Staat isoliert und besaß eine große Bevölkerung, die eine starke Militärmacht zu schaffen imstande war, dann mussten die Menschen für den Schutz vor militärischen Überfällen ebenfalls mit ihrer Freiheit bezahlen, da sich in solchen mächtigen Staaten stets Despotie und Tyrannei entwickelten. So war es im alten Ägypten, in Assyrien und Babylonien.
Die Frauen, vor allem die schönen, waren im Altertum Beute und Spielzeug der Mächtigen. Sie konnten ohne den Schutz des Mannes nicht existieren und waren ihm voll und ganz unterworfen.
Das eigene Streben und der Wille der Frau bedeuteten so wenig, so unendlich wenig, dass angesichts eines solchen Lebens… wer weiß… der Tod vielleicht noch das kleinere Übel zu sein schien…“
Das laute Knacken eines brennenden Zweiges brachte Dar Weter wieder in die Wirklichkeit zurück. Gleichsam als Reaktion auf seine Gedanken rückte Weda ein Stück näher, stocherte langsam im Feuer und verfolgte dabei die bläulichen Flammen, die an dem verkohlten Holz entlangzüngelten.
„Wie viel Geduld und Tapferkeit war in jenen Zeiten notwendig, damit der Mensch er selbst blieb, den Mut nicht verlor, sondern im Leben etwas erreichte!“, sagte Weda Kong leise.
„Mir scheint, dass wir uns das Leben des Altertums allzu hart vorstellen“, entgegnete Dar Weter. „Ganz abgesehen davon, dass die Menschen an ihre Lebensweise gewöhnt waren, brachte diese Ungeordnetheit auch viele abwechslungsreiche Zufälle mit sich. Der Wille und die Kraft des Menschen entlockten auch diesem Leben Augenblicke romantischer Freude, ähnlich wie Stahl auf grauem Stein Funken schlägt.“
„Ich kann nicht verstehen, weshalb unsere Vorfahren erst so spät das einfache Gesetz begriffen, nach dem das Schicksal der Gesellschaft nur von ihnen selbst abhängt“, sagte Weda. „Es ist doch selbstverständlich, dass eine Gesellschaft dem moralisch-ideologischen Entwicklungsstand ihrer Mitglieder entspricht, der wiederum von den ökonomischen Bedingungen abhängt.“
„Ja, und dass der wissenschaftliche Aufbau einer Gesellschaft in seiner vollendeten Form nicht nur eine quantitative Anhäufung von Produktivkräften, sondern eine qualitative Stufe in der Entwicklung ist — uns erscheint das heute so logisch“, antwortete Dar Weter. „Genau wie das Begreifen der dialektischen Interdependenz, der Tatsache, dass neue menschliche Beziehungen ohne einen neuen Menschen genauso unvorstellbar sind wie der neue Mensch ohne diese neuen ökonomischen Bedingungen. Als die Menschheit diese Zusammenhänge begriff, machte man die Erziehung, die physische und geistige Entwicklung des Menschen zur Hauptaufgabe der Gesellschaft. Wann war es schließlich noch mal so weit?“
„In der ÄUW, der Ära der Uneinigen Welt, am Ende des Zeitalters der Spaltung, bald nach der ZWR, der Zweiten Großen Revolution.“
„Gut, dass es nicht später war! Bei all der vernichtenden Kriegstechnik…“
Dar Weter verstummte und drehte sich unwillkürlich zu der dunklen Waldlichtung um, die zwischen Lagerfeuer und Hügelabhang lag. Das Stampfen schwerer Hufe und ein keuchender Atem waren ganz in der Nähe zu vernehmen. Erschrocken sprangen die beiden Reisenden auf.
Ein riesiger schwarzer Stier stand plötzlich vor dem Feuer. In seinen boshaft rollenden Augen flackerte der blutrote Widerschein der Flammen. Schnaufend und mit den Hufen in der trockenen Erde scharrend setzte das Ungeheuer zum Angriff an. In dem schwachen Lichtschein wirkte der Stier unglaublich riesig, sein gesenkter Kopf glich einem Granitblock, hinter dem sich der hohe Widerrist wie ein Berg von Muskeln auftürmte. Nie zuvor waren Weda oder Dar Weter der todbringenden bösen Kraft eines Tieres so unmittelbar gegenübergestanden. Einem Wesen, dessen Unverstand nicht mit Verstand beizukommen war.
Weda presste fest die Hände an die Brust und stand regungslos da, gleichsam hypnotisiert von der Erscheinung, die plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht war. Dar Weter stellte sich, einem starken Instinkt gehorchend, dem Stier in den Weg, um Weda zu schützen, so wie es schon seine Vorfahren Tausende und Abertausende Male getan hatten. Mit dem Unterschied, dass die Hände des Menschen der neuen Ära unbewaffnet waren.
„Weda, nach rechts…“, stieß er gerade noch hervor, ehe das Tier auf sie zustürzte.
Die durchtrainierten Körper der beiden Reisenden konnten an Schnelligkeit glücklicherweise mit dem unglaublich behänden Stier mithalten. Der Riese raste an ihnen vorbei und krachte in das Dickicht des Gebüschs, während Weda und Dar Weter in die Dunkelheit flohen und sich unversehens auf Höhe des Fluggleiters wiederfanden. Abseits des Feuers war die Nacht bei Weitem nicht mehr so dunkel, und Wedas Kleid war zweifellos weithin zu sehen. Der Stier hatte sich bereits wieder aus dem Gebüsch befreit. Beherzt warf Dar Weter seine Begleiterin leicht in die Höhe, sie machte einen Salto und landete auf der Plattform des Fluggleiters. Während das Tier wieder mit stampfenden Hufen auf sie zukam, schwang sich Dar Weter neben Weda auf die Maschine. Flüchtig blickten sie einander ins Gesicht, und Dar Weter konnte unverhohlene Begeisterung in Wedas Miene lesen. Die Motorhaube stand offen, seit er versucht hatte, hinter das komplizierte Konstruktionsschema der Maschine zu kommen. Nun nahm er all seine Kraft zusammen, riss das Ausgleichskabel vom Geländer der Plattform los, steckte das blanke Ende unter die Feder des Hauptanschlusses und schob Weda vorsichtshalber etwas beiseite. Im selben Moment verfing sich der Stier mit einem Horn im Geländer, und der Fluggleiter schwankte unter dem starken Ruck. Darauf steckte Dar Weter das Ende des Kabels in die Nase des Tiers. Ein gelber Blitz, ein dumpfer Schlag, und der rasende Stier lag flach auf dem Boden.
„Sie haben ihn getötet!“, rief Weda empört.
„Ich glaube nicht, die Erde ist ja trocken!“, entgegnete der spitzfindige Held mit zufriedenem Lächeln.
Und gleichsam als Bestätigung seiner Worte fing der Stier leise zu brüllen an, erhob sich und rannte, ohne sich umzusehen, in unsicherem Trab davon, so als wäre er sich seiner Schmach bewusst. Die Reisenden kehrten ans Feuer zurück. Eine neue Ladung Reisig brachte die fast erloschenen Flammen wieder zum Lodern.
„Mir ist nicht mehr kalt“, sagte Weda. „Lassen Sie uns auf den Hügel steigen.“
Vom Gipfel des Hügels konnten sie ihr eigenes Lagerfeuer nicht sehen, dafür bildeten die matt leuchtenden Sterne am nördlichen Sommerhimmel neblige Kugeln am Horizont.
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