»Ich möchte, dass sie hier sind«, sagte ich.
Er zeigte keine Reaktion, außer dass er seine ohnehin schon sehr dünnen Lippen noch mehr zusammenkniff. »Das müssen gute Freunde sein, wenn sie kommen, um dich sterben zu sehen.«
»Es wäre schwieriger, sich dem hier ohne ihre Unterstützung zu stellen, Großvater. Sagt mir, habt Ihr Ygreth eine Begleitung erlaubt, als Ihr sie ermordet habt?«
Er richtete sich auf, was er selten tat. Zum ersten Mal sah ich einen Schatten des Mannes, der er einmal gewesen war, groß und hager wie jeder Amn und so großartig wie meine Mutter. Es war erschreckend, diese Ähnlichkeit auf einmal zu sehen. Er war allerdings zu dünn für seine Größe, was seine ungesunde Hagerkeit nur betonte. »Ich werde meine Handlungen nicht vor dir rechtfertigen, Enkelin.«
Ich nickte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die anderen mich beobachteten. Relad sah ängstlich aus, Scimina verärgert. Viraine — ich konnte seinen Ausdruck nicht deuten, aber er beobachtete mich mit einer plötzlichen Intensität, die mich verwirrte. Aber ich konnte dafür keinen weiteren Gedanken erübrigen. Dies war vielleicht meine letzte Chance, herauszufinden, warum meine Mutter gestorben war. Ich glaubte immer noch, dass Viraine die Tat verübt hatte, auch wenn das immer noch keinen Sinn ergab, weil er sie geliebt hatte. Aber wenn er auf Geheiß von Dekarta gehandelt hatte ...
»Ihr müsst mir nichts erklären«, antwortete ich. »Ich kann es erraten. Als Ihr jung wart, wart Ihr wie diese beiden...« Ich zeigte auf Relad und Scimina. »Selbstverliebt, vergnügungssüchtig und grausam. Aber Ihr wart nicht so herzlos wie sie, nicht wahr? Ihr habt Ygreth geheiratet, und Euch muss wirklich etwas an ihr gelegen haben, sonst hätte Eure Mutter sie nicht als Euer Opfer auserwählt, als die Zeit reif war. Aber Ihr habt Macht noch mehr geliebt, und so seid Ihr auf den Handel eingegangen. Ihr wurdet Familienoberhaupt. Und Eure Tochter wurde Eure Todfeindin.«
Dekartas Lippen zuckten, und ich konnte nicht sagen, ob das ein Zeichen von Gefühlen war oder die Schüttellähmung, die ihn hin und wieder heimzusuchen schien. »Kinneth liebte mich.«
»Ja, das tat sie.« Weil das die Art Frau war, die meine Mutter gewesen war. Sie konnte lieben und hassen gleichzeitig; sie konnte das eine benutzen, um das andere zu verbergen und zu nähren. Sie war, wie Nahadoth gesagt hatte, eine wahre Arameri gewesen. Nur waren ihre Ziele andere.
»Sie liebte Euch«, sagte ich, »und ich denke, dass Ihr sie getötet habt.«
Diesmal war ich sicher, dass Schmerz über das Gesicht des alten Mannes huschte. Es befriedigte mich für einen Augenblick, aber auch nicht länger. Der Krieg war verloren — dieses Scharmützel hatte keinen Einfluss auf das große Ganze. Ich würde sterben. Und obwohl mein Tod die Sehnsüchte so vieler erfüllen würde — die meiner Eltern, die der Enefadeh, meine eigenen —, konnte ich ihn unter diesen unpersönlichen Umständen nicht ertragen. Mein Herz war voller Angst.
Trotzdem drehte ich mich um und sah die Enefadeh an, die hinter mir aufgereiht standen. Kurue konnte mir nicht in die Augen schauen, aber Zhakkarn tat es, und sie nickte mir respektvoll zu. Si’eh stieß ein leises, katzenartiges Jammern aus, das zwar nicht menschlich, aber dadurch nicht weniger gepeinigt klang. In meinen Augen brannten Tränen. Welch eine Torheit. Auch wenn ich nicht heute sterben würde, wäre ich nur ein Schluckauf in seinem endlosen Leben. Ich war diejenige, die starb — und trotzdem würde ich ihn schrecklich vermissen.
Schließlich sah ich zu Nahadoth, der hinter mir auf einem Knie in Deckung gegangen war und von den grauen Wolkenketten umrahmt wurde. Es war klar, dass sie ihn dazu zwangen, niederzuknien — hier an der Stätte von Itempas. Aber er beobachtete mich und nicht den östlichen Himmel, der immer heller wurde. Ich hatte erwartet, dass er unbeteiligt aussehen würde, aber so war es nicht. Scham, Trauer und eine Wut, die einst Planeten zerschmettert hatte, standen in seinen Augen — zusammen mit anderen Gefühlen, die zu sehr an die Nerven gingen, um sie zu benennen. Gegen meinen Willen brannten Tränen in meinen Augen. Konnte ich dem trauen, was ich sah? Durfte ich es wagen? Schließlich würde er bald wieder mächtig sein. Was kostete es ihn schon, mir jetzt Liebe vorzuspielen, um mich damit dazu zu bringen, ihren Plan auszuführen?
Voller Schmerz senkte ich meinen Blick. Ich war lange genug in Elysium, dass ich mir selber schon nicht mehr vertraute.
»Ich habe deine Mutter nicht getötet«, sagte Dekarta.
Ich schreckte auf und wandte mich ihm zu. Er hatte so leise gesprochen, dass ich einen Moment lang dachte, ich hätte mich verhört. »Was?«
»Ich habe sie nicht umgebracht. Ich hätte sie niemals getötet. Wenn sie mich nicht so gehasst hätte, hätte ich sie angefleht, nach Elysium zurückzukehren und sogar dich mitzubringen.« Zu meinem Entsetzen sah ich Nässe auf Dekartas Wangen. Er weinte. Und starrte mich wütend durch seine Tränen hindurch an. »Ich hätte sogar um ihretwillen versucht, dich zu lieben.«
»Großvater«, sagte Scimina. IhrTon grenzte an Anmaßung und vibrierte förmlich vor Ungeduld. »Obwohl ich Eure Güte gegenüber unserer Cousine zu schätzen weiß ...«
»Schweig«, knurrte Dekarta sie an. Seine Augen, die farblos wie Diamanten waren, fixierten sie so scharf, dass sie zusammenzuckte. »Du hast keine Ahnung, wie nah daran ich war, dich zu töten, als ich von Kinneths Tod erfuhr.«
Scimina versteifte sich und war ein Abbild von Dekartas Haltung. Sie befolgte seinen Befehl natürlich nicht. »Das wäre Euer Privileg gewesen, Großvater. Aber ich hatte mit Kinneths Tod nichts zu tun. Ich habe ihr oder ihrer Bastard-Tochter keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich weiß nicht einmal, warum Ihr sie als das heutige Opfer erwählt habt.«
»Um zu sehen, ob sie eine wahre Arameri ist«, sagte Dekarta sehr leise. Sein Blick traf wieder meinen. Es dauerte drei Herzschläge, bis ich begriff, was er damit meinte, und dann wich das Blut aus meinem Gesicht.
»Ihr dachtet, dass ich sie getötet habe«, flüsterte ich. »Allmächtiger Vater, das habt Ihr wirklich geglaubt.«
»Diejenigen zu ermorden, die wir am meisten lieben, ist eine weit zurückreichende Tradition in unserer Familie«, sagte Dekarta.
Hinter uns war der Himmel im Osten sehr hell geworden.
Ich stammelte. Es bedurfte mehrerer Anläufe, bevor ich in meiner Wut einen zusammenhängenden Satz hervorbrachte — und als es mir gelang, war er in Darre. Das wurde mir aber erst klar, als Dekarta angesichts meiner Flüche eher verwirrt denn beleidigt wirkte. »Ich bin keine Arameri!«, beendete ich den Satz und ballte die Fäuste. »Ihr esst Euren Nachwuchs, und Ihr ernährt Euch von Leiden wie Ungeheuer aus einem uralten Märchen! Außer meinem Blut werde ich nie etwas mit Euch gemeinsam haben, und wenn ich das aus mir verbannen könnte, würde ich es auch noch tun!«
»Vielleicht bist du keine von uns«, sagte Dekarta. »Ich sehe jetzt, dass du unschuldig bist, und indem ich dich töte, zerstöre ich nur, was von ihr übrig ist. Ein Teil von mir bedauert das. Aber ich werde nicht lügen, Enkelin. Es gibt noch einen anderen Teil von mir, der deinen Tod bejubeln wird. Du hast sie mir weggenommen. Sie hat Elysium verlassen, um bei deinem Vater zu sein und dich aufzuziehen.«
»Fragt Ihr Euch, warum?« Ich zeigte in dem Glaszimmer auf die Götter und Blutsverwandten, die gekommen waren, um mich sterben zu sehen. »Ihr habt ihre Mutter getötet. Habt Ihr gedacht, sie würde darüber hinwegkommen?«
Zum ersten Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, flackerte etwas Menschliches in Dekartas traurigem, selbstironischem Lächeln. »Ich denke ja. Das war töricht von mir, nicht wahr?«
Ich konnte nicht anders und erwiderte sein Lächeln. »Ja, Großvater, das war es.«
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