Ich zitterte bereits, sonst hätte ich jetzt damit angefangen. »N- nein.«
»So viele Lügen.« Mit dem letzten Wort schob er seine Zunge heraus und strich damit über meine Lippen. Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich; ich konnte nicht verhindern, dass ich wimmerte. Ich sah mich wieder auf dem grünen Gras, unter ihm, von ihm festgenagelt. Ich sah mich auf einem Bett — auf genau dem Bett, auf dem ich saß. Ich sah ihn, wie er mich auf dem Bett meiner Mutter nahm, mit wildem Gesicht und brutalen Bewegungen, aber ich besaß ihn nicht und hatte auch keine Kontrolle über ihn. Wie hatte ich es je wagen können, mir vorzustellen, dass das der Fall sein könnte?
Er benutzte mich, und ich war hilflos, schrie auf vor Schmerzen und Lust. Ich gehörte ihm, und er verschlang mich, genoss es, wie er meine Vernunft in Stücke riss und sie als triefende Stücke hinunterschluckte. Er würde mich vernichten, und ich würde jede Minute davon lieben.
»O Götter ...« Die Ironie meines Stoßseufzers blieb mir verborgen. Ich streckte meine Hände hoch und vergrub sie in seiner schwarzen Aura, um ihn wegzuschieben. Ich fühlte kalte Nachtluft und dachte, meine Hände würden einfach hindurchgehen und nichts berühren. Stattdessen stieß ich auf solides Fleisch, einen warmen Körper, Kleidung. Ich klammerte mich an der Kleidung fest, um mich an die Wirklichkeit und die Gefahr zu erinnern. Es war so schwer, ihn nicht näher heranzuziehen. »Bitte nicht. Bitte, o Götter, bitte nicht.«
Er war immer noch über mir. Sein Mund streifte immer noch meinen, so dass ich sein Lächeln spüren konnte. »Ist das ein Befehl?«
Ich zitterte vor Angst, Begierde und Anstrengung. Letztere zahlte sich schließlich aus, als ich es schaffte, meinen Kopf von seinem wegzudrehen. Sein kühler Atem kitzelte meinen Hals, und ich spürte ihn am ganzen Körper, wie eine innige Liebkosung. Ich hatte noch nie einen Mann so begehrt, nie in meinem ganzen Leben. Ich hatte noch nie solche Angst gehabt.
»Bitte«, sagte ich erneut.
Er küsste mich ganz sanft auf meinen Hals. Ich versuchte, nicht zu stöhnen, und versagte kläglich. Ich sehnte mich nach ihm. Aber dann seufzte er, erhob sich und ging hinüber zum Fenster. Die schwarzen Tentakel seiner Macht berührten mich noch etwas länger; ich war fast in seiner Dunkelheit vergraben gewesen. Aber als er sich wegbewegte, ließen seine Tentakeln mich frei — widerwillig, wie es schien — und zogen sich in die übliche Rastlosigkeit seiner Aura zurück.
Ich schlang meine Arme um mich und fragte mich, ob ich jemals aufhören würde, zu zittern.
»Deine Mutter war eine echte Arameri«, sagte Nahadoth.
Das zu hören holte mich so schockartig aus meiner Sehnsucht wie ein Schlag ins Gesicht.
»Sie war alles, was Dekarta wollte, und sogar noch mehr«, fuhr er fort.
»Ihre Ziele waren nie dieselben, aber sie war in allen anderen Belangen ihrem Vater mehr als ebenbürtig. Er liebt sie immer noch.«
Ich schluckte. Meine Beine waren zittrig, deshalb stand ich nicht, richtete mich jedoch aus der zusammengekrümmten Haltung, die ich. unwillkürlich eingenommen hatte, auf. »Aber warum hat er sie dann getötet?«
»Du denkst, dass er es war?«
Ich öffnete meinen Mund, um eine Erklärung zu verlangen. Noch bevor ich das tun konnte, wandte er sich zu mir um. Im Lichtschein, der durch das Fenster fiel, war sein Körper eine Silhouette, bis auf seine Augen. Ich konnte sie genau sehen, schwarz wie Onyx und mit dem Glanz von überirdischem Wissen und Boshaftigkeit.
»Nein, kleine Spielfigur«, sagte der Lord der Finsternis. »Kleines Werkzeug. Keine Geheimnisse mehr, nicht ohne ein Bündnis. Das dient deiner Sicherheit genauso wie unserer. Soll ich dir die Bedingungen nennen?« Irgendwie wusste ich, dass er lächelte. »Ja, ich denke, das sollte ich. Wir wollen dein Leben, süße Yeine. Biete es uns an, und du wirst alle Antworten bekommen, die du willst — und zusätzlich noch die Chance auf Rache. Das ist es doch, was du wirklich willst, oder nicht?« Ein leises, grausames Kichern. »Du bist mehr Arameri, als Dekarta sieht.«
Ich begann erneut zu zittern, diesmal aber nicht aus Angst.
Wie zuvor verschwand er. Sein Bild war schon fort, lange bevor seine Präsenz folgte. Als ich ihn nicht länger spüren konnte, räumte ich die Sachen meiner Mutter fort und richtete das Zimmer so her, dass niemand meine Anwesenheit bemerken würde. Ich wollte den silbernen Obstkern behalten, aber mir fiel kein Ort ein, an dem er sicherer war als in dem Fach, in dem er jahrzehntelang unentdeckt gelegen hatte. Also ließ ich ihn und die Briefe in ihrem Versteck.
Als ich endlich fertig war, ging ich zurück in mein Zimmer. Ich musste all meine Willenskraft zusammennehmen, um nicht zu rennen.
T’vril sagte mir, dass Elysium manchmal Leute auffrisst. Schließlich wurde es von den Enefadeh gebaut, und ein Zuhause zu haben, das von wütenden Göttern erbaut wurde, birgt einige Risiken. In Neumondnächten, wenn die Sterne sich hinter Wolken verstecken, hören die Steinmauern auf zu leuchten. Bright Itempas hat dann keine Macht. Die Dunkelheit bleibt nie lange — höchstens ein paar Stunden —, aber während sie andauert, bleiben die meisten Arameri in ihren Zimmern und sprechen leise. Wenn sie durch Elysiums Flure gehen müssen, bewegen sie sich schnell und verstohlen und achten genau darauf, wo sie ihre Füße hinsetzen. Weil, das muss man wissen, die Böden sich vollkommen zufällig öffnen und die Unachtsamen verschlingen. Suchtrupps begeben sich in die ungenutzten Räume, die sich darunter befinden, aber die Leichen werden nie gefunden. Ich weiß jetzt, dass das wahr ist. Aber noch wichtiger ist — ich weiß\ wo die Verschwundenen gehlieben sind.
»Bitte erzählt mir von meiner Mutter«, sagte ich zu Viraine.
Er sah von dem Apparat, an dem er arbeitete, auf. Dieser sah aus wie eine spinnenartige Masse aus zusammengefügtem Metall und Leder, und ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wozu er dienen sollte. »T’vril hat mir erzählt, dass er Euch letzte Nacht zu ihrem Zimmer geschickt hat«, sagte er und rutschte auf seinem Hocker herum, um mich anzusehen. Sein Ausdruck war nachdenklich. »Wonach sucht Ihr?«
Ich merkte mir:T’vril war nicht absolut vertrauenswürdig. Aber das überraschte mich nicht; T’vril hatte zweifellos seine eigenen Kämpfe zu bestehen. »Die Wahrheit.«
»Ihr glaubt Dekarta nicht?«
»Würdet Ihr das tun?«
Er kicherte. »Ihr habt auch keinen Grund, mir zu glauben.«
»Ich habe keinen Grund, irgendjemandem in diesem ganzen, stinkenden Amn-Fuchsbau zu glauben. Aber da ich nicht fortgehen kann, habe ich keine andere Wahl, als durch den Dreck zu kriechen.«
»O weh. Ihr hört Euch fast genauso an wie sie.« Zu meiner Überraschung schien er über meine Unverschämtheit erfreut. Er begann tatsächlich zu lächeln, wenn auch mit einem Hauch Herablassung. »Zu plump allerdings. Zu geradeheraus. Kinneths Beleidigungen waren so subtil, dass man erst Stunden später bemerkte, wenn sie einen als Dreck bezeichnet hatte.«
»Meine Mutter hat nie jemanden beleidigt, es sei denn, sie hatte einen guten Grund. Was habt Ihr gesagt, um sie zu provozieren?«
Er zögerte nur einen Herzschlag lang, aber ich bemerkte befriedigt, dass sein Lächeln verschwand.
»Was wollt Ihr wissen?«, fragte er.
»Warum ließ Dekarta meine Mutter umbringen?«
»Die einzige Person, die diese Frage beantworten könnte, ist Dekarta. Habt Ihr die Absicht, mit ihm zu sprechen?«
Irgendwann sicherlich. Aber er war nicht der Einzige, der eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten konnte. »Warum kam sie in jener letzten Nacht hierher? Der Nacht, in der Dekarta endgültig klar wurde, dass sie nicht zurückkehren wird?«
Die Überraschung hatte ich in Viraines Gesicht erwartet. Was ich nicht erwartet hatte, war die kalte Wut, die ihr auf dem Fuße folgte.
Читать дальше