„Dimka!“ rief Irka.
„Sieh nur! Ein Wunder!“ Mir stockte das Herz. Diese Wunder kannte ich. Ich sprang auf…
19.…Kaffee trinken. Und da verkündete Irka frohgemut, alles sei herrlich und wunderschön. Letzten Endes wende sich doch immer alles auf der Welt zum Guten. Die zehn Tage in Odessa hätten ihr dicke gereicht, in diesem Sommer sei dort so viel Trubel wie noch nie, und überhaupt habe sie sich heimgesehnt und denke gar nicht daran, nach Odessa zurückzukehren, zumal es bestimmt keine Flugkarten gebe und Mamachen sowieso Ende August auf Besuch kommen wolle und dann Bobka mitbringen könne.
Jetzt werde sie, Irka, wieder arbeiten gehen, und zwar gleich nach dem Kaffeetrinken — und in Urlaub fahren wir zusammen, wie wir schon mal vorhatten, im März oder April: nach Kirowsk, in die Berge zum Wintersport.
Wir wollten Rührei mit Tomaten essen. Während ich das Rührei briet, durchstöberte Irka die ganze Wohnung nach Zigaretten, fand jedoch nichts, ließ plötzlich die Nase hängen, machte uns noch Kaffee und fragte, wie es mit Snegowoi gewesen war. Ich erzählte ihr, was ich von Igor Petrowitsch erfahren hatte, wobei ich geflissentlich alle Klippen mied und die Geschichte als einen ausgesprochenen Unglücks fall hinzustellen bemüht war. Beim Erzählen fiel mir die entzückende Lidotschka ein, und um ein Haar hätte ich mich verplappert. Irka redete über Snegowoi, erinnerte sich an was, zog betrübt die Mundwinkel runter (…„jetzt hat man nicht mal jemand, bei dem man ein Stäbchen schnorren kann!“), ich aber trank in kleinen Schlucken den Kaffee und war nicht einig mit mir, was ich tun sollte: Solange ich Irka nicht alles durch die Bank erzählte, schien mir auch nicht ratsam, das Gespräch auf Lidotschka und den Bestelldienst zu bringen; denn die Sache mit Lidotschka und dem Bestelldienst war restlos unklar — vielmehr, restlos klar: So viel Zeit war vergangen, und Irka hatte weder die Freundin noch ihre Bestellung auch nur mit einem Wort erwähnt. Natürlich konnte es ihr entfallen sein. Erstens — die Riesenaufregung, zweitens vergisst sie überhaupt immer alles. Trotzdem war es besser — sicher ist sicher — die verfänglichen Themen zu meiden. Das heißt einen kleinen Probeball zu starten konnte vielleicht nicht schaden. Ich passte einen günstigen Moment ab — als nämlich Irka von Snegowoi abkam und zu erfreulicheren Dingen überging: wie Bobka in den Graben gepurzelt war und die Schwiegermutter gleich hinterher — und
fragte beiläufig:
„Na, und was macht deine Lidotschka?“
Mein kleiner Probeball entpuppte sich als ein ziemlich schweres Geschoss. Irka machte große Augen.
„Was denn für eine Lidotschka?“
„Na die… Mit der du zur Schule gegangen bist.“
„Ah, die Ponomarjowa? Wie kommst du denn auf die?“
„Bloß so“, stammelte ich.
„Rein zufällig.“ Solche Gegenfrage hatte ich nicht einkalkuliert.
„Odessa, Panzerkreuzer ›Potjomkin‹… Die Fischerkähne mit Äschen… Da ist sie mir eben eingefallen. Was ist denn dabei?“
Irka, die kein Auge von mir wandte, klapperte ein paarmal mit den Lidern und sagte schließlich:
„Wir haben uns getroffen. Hübsch ist sie geworden, die Männer laufen ihr nach.“
Eine Pause trat ein. Verdammt, wie ich die Schwindelei hasse! Ein feines Probebällchen! Ein Selbsttor. Unter Irkas prüfenden Blicken stellte ich die leere Tasse auf die Untertasse, sagte mit falscher Stimme:
„Was macht denn unser Baum?“, trat an die Balkontür und blickte hinaus. Na gut, Schwamm drüber, mit Lidotschka war jetzt alles klar, ein für allemal. Aber unser Baum, was machte der?
Der Baum war noch da. Die Menge hatte sich gelichtet. Eigentlich standen am Baum nur noch Karo, zwei Hauswarte, ein Mann vom Tiefbauamt und zwei Milizionäre. Sowie ein gelber Streifen wagen. Alle, außer dem Wagen natürlich, schauten auf den Baum und tauschten sich offenbar darüber aus, wie man sich verhalten und was das alles bedeuten sollte. Einer von den Milizmännern nahm die Mütze ab und wischte sich mit dem Taschentuch den rasierten Schädel. Auf dem Hof war es schon ziemlich heiß, und zu den üblichen Gerüchen nach Asphalt, Staub und Benzin hatte sich ein eigenartiger neuer gesellt — Waldduft. Der rasierte Milizmann setzte plötzlich seine Mütze wieder auf, steckte das Taschentuch weg, hockte sich hin und polkte mit dem Finger in der aufgewühlten Erde. Rasch trat ich vom Balkon zurück.
Irka war schon im Bad. Schnell räumte ich den Tisch ab und spülte das Geschirr. Ich war todmüde, wusste aber: Einschlafen konnte ich jetzt sowieso nicht. Wahrscheinlich würde ich überhaupt nicht mehr schlafen können, bevor diese Geschichte nicht ausgestanden war. Ich rief bei Wetscherowski an. Erst als es tutete, fiel mir ein, daß er ja gar nicht zu Hause sein konnte, er musste rigorosa abnehmen, doch ehe ich zu Ende gedacht hatte, meldete er sich.
„Du bist zu Hause?“ fragte ich blöd.
„Ja, wie soll ich dir das erklären…“, antwortete er.
„Schon gut“, sagte ich.
„Hast du den Baum gesehen?“
„Ja.“
„Na und?“
„Ganz bestimmt“, erwiderte Wetscherowski. Ich schielte zum Bad und sagte halblaut:
„Ich glaub, das war ich.“
„Meinst du?“
„Mhm. Ich hab die Reinschrift gemacht.“
„Hast du’s geschafft?“
„Nicht ganz. Gleich setz ich mich hin und mach weiter.“
Wetscherowski schwieg.
„Und warum?“ fragte er dann. Ich geriet ins Stammeln.
„Ich weiß nicht… Plötzlich bekam ich Lust, Ordnung reinzubringen. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich vor Kummer. Ist doch schade. Und du, gehst du heute nicht weg?“
„Sieht nicht so aus. Was macht Irka?“
„Zwitschert“, sagte ich und musste unwillkürlich lächeln.
„Du kennst doch Irka. Von der prallt alles ab.“
„Hast du’s ihr erzählt?“
„Wo denkst du hin! Natürlich nicht.“
„Warum — „natürlich“?“
Ich räusperte mich.
„Weißt du, Phil, ich schwanke ja selber: Soll ich’s ihr sagen oder nicht? Ich komm einfach zu keinem Schluss.“
„Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann tu nichts“, sagte Wetscherowski. Ich wollte antworten, so klug sei ich selber, doch da stellte Irka im Bad die Dusche ab, und ich sagte hastig:
„Also, mach’s gut, ich geh an die Arbeit. Wenn was ist, ruf an, ich bin zu Hause.“
Irka zog sich an, schminkte sich, gab mir einen Schmatz auf die Nase und hüpfte davon. Ich packte mich bäuchlings auf die Liege, die Hände unter dem Kopf, und begann nachzudenken. Sofort erschien Kaljam, erkletterte mich und machte sich auf meinem Rücken lang. Er war weich, heiß und feucht. Und da schlief ich ein. Es war wie eine Ohnmacht.
Das Bewusstsein schwand und stellte sich plötzlich wieder ein. Kaljam lag nicht mehr auf meinem Rücken, an der Tür klingelte es. Unser verabredetes Zeichen: kling ling-ling ling-ling. Ich rollte mich von der Liege. Mein Kopf war klar, ich fühlte mich ungewöhnlich kampflustig. Bereit zum ruhmreichen Tod. Ich begriff: Eine neue Runde begann. Aber Angst empfand ich nicht mehr, nur noch wilde Entschlossenheit.
Allerdings stand draußen lediglich Waingarten.
Nicht zu fassen — noch verschwitzter, zerzauster, glotzäugiger und aufgelöster als gestern.
„Was ist das für ein Baum?“ erkundigte er sich gleich von der Schwelle aus, und zwar im Flüsterton,
was ebenfalls unfasslich war.
„Du kannst ruhig laut reden“, sagte ich. „Komm rein.“
Vorsichtig, nach allen Seiten schielend, trat er ein, stellte zwei schwere Einkaufsnetze mit gewaltigen
Manuskriptmappen unter die Flurgarderobe und wischte sich mit der nassen Hand den nassen Hals. Ich zog Kaljam am Schwanz in den Wohnungsflur und schloss die Tür.
„Na?“ fragte Waingarten.
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