Ich warf den nassen Lappen ins Spülbecken.
„Du hast also deine eigene Hypothese?“ fragte ich.
„Ja, hab ich.“
„Na dann leg sie dar. Übrigens — warum hast du das nicht gleich getan? Als Waingarten noch hier war?“
Wetscherowski bewegte die Brauen.
„Weißt du… Jede neue Hypothese hat den Nachteil, daß sie eine Menge Streit hervorruft. Und zum Streiten hatte ich keine Lust. Ich wollte euch bloß klarmachen, daß ihr vor einer Entscheidung steht und daß ihr diese Entscheidung selber, jeder für sich allein, treffen müsst. Wie ich sehe, ist mir das nicht gelungen. Dabei hätte meine Hypothese ein zusätzliches Argument sein können, weil ihr Sinn… Genauer gesagt, weil die einzige praktische Schluss folgerung aus ihr darin besteht, daß ihr jetzt nicht bloß keine Freunde, sondern nicht einmal einen Feind habt. Wahrscheinlich bin ich falsch vorgegangen. Wahrscheinlich hätte ich mich auf eine zermürbende Diskussion einlassen sollen, dann wäre euch jetzt der Ernst der Lage klar. Meiner Meinung nach verhält sich die Sache so…“ Nicht, daß ich seine Hypothese nicht verstanden hätte, doch ich erfasste sie nicht restlos. Ich kann nicht behaupten, daß sie mich überzeugte, obwohl ich andererseits zugeben muss, daß in ihr alles Platz fand, was wir erlebt hatten. Mehr noch, in ihr fand überhaupt alles Platz, was im Kosmos je geschehen war, geschieht und geschehen würde, und darin, wenn man so will, lag die Schwäche dieser Hypothese. Sie komplizierte die Probleme nur, statt sie zu lösen.
Wetscherowski prägte den Begriff Homöostatisches Weltgebäude (ja, er benutzte dieses altertümliche poetische Wort).
„Das Weltgebäude wahrt seine Struktur“— lautete sein Axiom. Seiner Ansicht nach sind die Gesetze von der Erhaltung der Energie und der Materie bloß Teiläußerungen des Gesetzes von der Erhaltung der Struktur. Das Gesetz von der Nichtabnahme der Entropie widerspricht der Homöostase des Weltgebäudes und ist daher ein partikuläres und kein allgemeines Gesetz. Ergänzung zu diesem Gesetz ist das Gesetz von der unaufhörlichen Reproduktion der Vernunft. In der Kombination x; und im Widerstreit dieser beiden partikulären Gesetze realisiert sich also das allgemeine Gesetz von der Erhaltung der Struktur. Gäbe es nur noch das Gesetz von der Nichtabnahme der Entropie, verlöre das Weltgebäude seine Struktur, träte Chaos ein. Andererseits: Gäbe es nur noch die sich ständig vervollkommnende allmächtige Vernunft oder würde sie auch nur dominieren, so geriete die Struktur des Weltgebäudes ebenfalls ins Wanken. Natürlich würde das Weltgebäude dadurch weder besser noch schlechter werden, sondern einfach nur anders, nicht homöostatisch; denn die sich stetig entwickelnde Vernunft kennt nur ein Ziel: die Natur der Natur zu verändern. Folglich besteht das Wesen der Homöostase des Weltgebäudes in der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen zu nehmender Entropie und der Entwicklung der Vernunft. Folglich gibt es und kann es keine Superzivilisation geben, denn unter Superzivilisation verstehen wir doch gerade eine Vernunft, die so hochentwickelt ist, daß sie das Gesetz von der Nichtabnahme der Entropie in kosmischen Maßstäben zu beeinträchtigen beginnt. Und was jetzt mit uns geschieht, ist nichts weiter als die erste Reaktion des Homöostatischen Weltgebäudes auf die Gefahr, die Menschheit könnte sich in eine Superzivilisation verwandeln. Das Weltgebäude setzt sich zur Wehr. Frag mich nicht, sagte Wetscherowski, wie es kommt, daß gerade Maljanow und Gluchow die ersten Schwalben der heranreifenden Kataklysmen sind. Frag mich nicht nach der physikalischen Beschaffenheit der Signale, die die Homöostase in jenem kosmischen Winkel erschüttert haben, wo ein Gluchow und Maljanow ihre weltbewegenden Entdeckungen betreiben. Überhaupt — frag mich nicht nach den Wirkungsmechanismen des Homöostatischen Weltgebäudes — darüber weiß ich ebensowenig, wie etwa über die Wirkungsmechanismen des Gesetzes von der Erhaltung der Energie bekannt ist. Alle Prozesse verlaufen eben so, daß die Energie erhalten bleibt. Alle Prozesse verlaufen eben so, daß die besagten Arbeiten von Maljanow und Gluchow, mit Millionen und aber Millionen anderer Arbeiten vereint, nicht nach Milliarden Jahren zum Weltuntergang führen. Wobei es natürlich nicht um den Weltuntergang überhaupt geht, sondern um den Untergang jener Welt, die wir heute vor uns haben, die seit Milliarden Jahren existiert und die Maljanow und Gluchow mit ihren mikroskopischen Versuchen, die Entropie zu überwinden, nichtsahnend in Gefahr bringen.
Annähernd so — richtig oder fast richtig oder auch völlig verkehrt — stellte sich mir Wetscherowskis Hypothese dar. Auf einen Streit verzichtete ich. So schon war alles trist, aber unter seinem Blickwinkel sah unsere Lage derart verfahren aus, daß ich einfach nicht wusste, was ich sagen, wie ich mich zu dem Ganzen verhalten und wozu ich überhaupt noch weiterleben sollte. Großer Gott! Maljanow, D. A., kontra Homöostatisches Weltgebäude! Das war ja weniger als eine Blattlaus unterm Ziegelstein. Weniger als ein Virus im Sonnenzentrum…
„Hör mal“, sagte ich.
„Wenn es so ist — wozu, verdammte Scheiße, zerreißen wir uns überhaupt noch die Mäuler. Der Teufel soll sie holen, meine M-Kavernen! Entscheiden, wählen! Wo siehst du denn hier eine Alternative?“ Gemächlich setzte er die Brille ab, massierte mit dem kleinen Finger den rotgedrückten Nasensattel. Lange schwieg er, unerträglich lange. Ich aber wartete. Weil mir mein sechster Sinn verriet: Er kann mich nicht einfach so meinem Schicksal überlassen, seiner Homöostase zum Fraß, das brächte er nie fertig, nie hätte er mir all das erzählt, wenn es nicht einen Ausweg gäbe, eine Möglichkeit, ja eine Alternative, verdammt noch mal! Da beendete er seine Nasenmassage, setzte die Brille wieder auf und sagte still:
„Ich hörte, dieser Weg führe zum Ozean des Todes, und kehrte auf halbem Wege um. Seither dehnen sich vor mir Umwege, öde und krumm…“
„Wie bitte?“
„Soll ich es wiederholen?“ fragte Wetscherowski.
„Ja.“
Er wiederholte. Ich war den Tränen nahe. Rasch stand ich auf, ließ den Teetopf vollaufen und setzte ihn erneut auf die Flamme.
„Wie gut, daß es Tee gibt“, sagte ich.
„Sonst läg ich längst besoffen unterm Tisch.“
„Trotzdem bin ich mehr für Kaffee“, sagte Wetscherowski.
Plötzlich hörte ich, wie jemand in der Wohnungstür den Schlüssel umdrehte. Wahrscheinlich wurde ich weiß wie die Wand, vielleicht sogar grün, jeden falls beugte sich Wetscherowski besorgt zu mir vor und sagte leise:
„Ruhig Blut, Dima… Du bist doch nicht allein.“ Ich hörte ihn kaum.
Draußen im Flur öffnete sich die zweite Tür, Kleider raschelten, schnelle Schritte ertönten, Kaljam stieß einen wilden Schrei aus, und während ich noch wie versteinert dasaß, rief die atemlose Stimme Irkas
„Kaljamchen!“ und gleich hinterher:
„Dimka!“ Hals über Kopf stürzte ich in den Flur. Ich flog Irka um den Hals, drückte sie, schmiegte mich an (Irka! Irka!), spürte das vertraute Parfüm — ihre Wangen waren nass, ihr Gestammel ebenso seltsam wie meins:
„Dimka! Du lebst! Mein Gott… Was hab ich durchgemacht!“
Schließlich besannen wir uns. Zumindest ich. Das heißt, mir wurde endgültig klar, daß es Irka war und was sie stammelte. Und das unbestimmte Entsetzen, das mich lähmte, verwandelte sich in einen ganz konkreten Alltagsschreck. Ich stellte sie vor mich hin, trat einen Schritt zurück, blickte aufmerksam in ihr verweintes Gesicht (sie war nicht mal angemalt) und fragte:
„Was ist los, Irka? Warum bist du hier? Und Bobka?“ Ich glaube, sie hörte mich gar nicht. Sie umklammerte meine beiden Hände, forschte mit tränennassen Augen in meinem Gesicht und wieder holte nur:
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