Ich finde, es ist doch besser, man weiß, daß man anvisiert wird. Freilich, die Leute sind verschieden, und die meisten wissen so was lieber nicht. Aber nicht so Irka. Die ist tollkühn, ich kenn sie. Wenn sie vor was Angst hat, rennt sie drauf zu, Hals über Kopf. Irgendwie unanständig von mir, sie nicht ein zuweihen. Und überhaupt. Ich muss mich entscheiden. Bisher hab ich’s vermieden, aber ich komm nicht umhin. Oder hab ich schon entschieden? Weiß es selber nicht und hab schon entschieden… Ja, wenn ich schon zu wählen hab… Angenommen, die Entscheidung als solche geht nur mich was an. Ich tu, was ich für richtig halte. Aber die Folgen? Ent— scheide ich so, beschmeißt man uns nicht bloß mit einfachen, sondern mit Atombomben. Entscheide ich anders… Interessant, ob Irka Gluchow nett fände? Eigentlich ist er doch ein lieber Kerl, so still und bescheiden… Den Fernseher müsste man schon
Bobka zuliebe kaufen, sonnabends würden wir Ski laufen, ins Kino gehen… Wie man’s auch dreht — es betrifft nicht bloß mich. Unter Bombenhagel zu sitzen ist mies, doch nach zehn Ehejahren da hinterzukommen, daß man mit einer Qualle lebt — auch kein Zuckerlecken… Und wenn nun doch? Woher weiß ich denn, was Irka an mir liebt? Das ist es ja eben: Ich weiß es nicht! Freilich, sie selber weiß es womöglich auch nicht.
Ich rauchte die Zigarette zu Ende, stand vom Hocker auf und steckte den Stummel in den Mülleimer. Neben dem Mülleimer lag ein Personalausweis. Reizend! Alles haben wir aufgehoben, jeden Papierschnipsel, jede Kopeke, bloß den Ausweis nicht! Ich nahm das schwarzgrüne Büchlein und überflog die erste Seite. Wieso, weiß ich selber nicht. Da brach mir der kalte Schweiß aus. Sergejenko, Inna Fjodorowna. Geburtsjahr: 1939… Was ist denn das! Auf dem Bild: Irka… Nein, nicht Irka. Eine Frau, die ihr gleicht, aber nicht Irka. Eine Inna Fjodorowna Sergejenko. Ich legte den Ausweis wie ein rohes Ei auf den Tisch, erhob mich und schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer. Wieder brach mir der kalte Schweiß aus. Die Frau unter dem Laken hatte ein von ledriger Haut straff umspanntes Gesicht und bleckte die Oberzähne, weiß, messerscharf — wie im Lächeln oder vor Schmerz. Eine Hexe! Wie von Sinnen packte ich sie an der nackten Schulter und rüttelte. Irka war sofort wach, riss ihre Kulleraugen auf und wisperte:
„Dimotschka, was hast du? Tut dir was weh?“ Herrgott — Irka! Natürlich Irka! Ich seh ja schon Gespenster!
„Hab geschnarcht, was?“ murmelte Irka verschlafen und war gleich wieder weg. Ich kehrte auf Zehenspitzen in die Küche zurück, schob den Ausweis möglichst weit weg, holte aus der Schachtel die letzte Zigarette und rauchte wieder. So. So also leben wir jetzt. Werden wir leben. Von jetzt ab.
Das eisige Tier in meinem Innern regte sich noch eine Weile und erstarrte. Ich wischte mir den ekligen Schweiß vom Gesicht. Da fiel mir etwas ein, und ich griff wieder in Irkas Tasche. Ihr Ausweis war da. Maljanowa, Irina Jermolajewna. Geburtsjahr: 1933. Zum Verrücktwerden!… Na schön. Aber was hatten die davon? War doch alles kein Zufall. Dieser Ausweis, das Telegramm, Irkas beschwerliche Reise, ja, auch die Särge im Flugzeug — war doch unmöglich Zufall, das alles… Oder doch? Blinde Wut, Mutter Natur, hirnlose Elementargewalt. Bestätigt doch ausgezeichnet Wetscherowskis Hypothese: Schlägt hier wirklich das Homöostatische Weltgebäude eine Mikrorevolte nieder, dann kann es durchaus so aus sehen. Wie wenn ein Mensch mit einem Handtuch Jagd auf eine Fliege macht. Wilde Schläge pfeifen durch die Luft, Vasen fliegen von den Regalen, die Stehlampe kippt um, harmlose Nachtfalter gehen drauf, die Katze, auf die Pfote getreten, flitzt mit steilem Schwanz unter die Couch… Geballtes, schlecht gezieltes Vorgehen. Was weiß ich denn schon? Vielleicht stürzt grade jetzt hinter Murinski Rutschej ein Haus ein: Gezielt war auf mich, getroffen wurde das Haus, und ich krieg es nicht mal mit, hab nur diesen Ausweis abbekommen. Und alles bloß deshalb, weil ich vorhin an die M-Kavernen gedacht hab? Mir vorgestellt habe, ich könnte Irka davon erzählen…
Nein, so kann ich bestimmt nicht leben. Ich glaub nicht, daß ich ein Feigling bin, aber so leben: keinen Moment Ruhe, vor der eigenen Frau erschrecken, weil man sie für eine Hexe hält… Ja, und Wetscherowski — Gluchow schneidet er einfach. Genauso wird er mich schneiden. Ich werde mich völlig umstellen müssen. Alles wird anders sein. Andre Freunde, andre Arbeit, andres Leben… Eine andre Familie vielleicht auch… Seither dehnen sich vor mir Umwege, öde und krumm… Und schämen werd ich mich, morgens beim Rasieren in den Spiegel zu blicken. Dort wird ein ganz kleiner, ganz stiller Maljanow sein.
Natürlich, auch daran gewöhnt man sich — wie wohl an alles auf der Welt. Auch an jeden Verlust. Aber wenn man bedenkt — ich verlier doch nicht wenig! Zehn Jahre hab ich dafür gearbeitet. Nein, nicht bloß zehn Jahre — das ganze Leben lang. Von Kind an, seit dem Schulzirkel, seit den selbstgebastelten Teleskopen, seit der Berechnung der Wolf schen Zahlen nach irgendwessen Beobachtungen… Meine M-Kavernen — eigentlich weiß ich nichts über sie: was sie hergäben, was jene draus machen könnten, die das Problem nach mir aufgreifen, entwickeln, bereichern, weiterüberliefern, ans nächste Jahrhundert… Anscheinend käme Beachtliches heraus, verliere ich Beachtliches, wenn es der Keim von Erschütterungen ist, gegen die das Weltall selbst aufbegehrt. Milliarden Jahre sind eine lange Frist. In Milliarden Jahren wächst aus einem Schleimklumpen eine Zivilisation…
Aber sie zertreten mich. Zuerst vergällen sie mir das Leben, piesacken mich, treiben mich zum Wahn sinn, und wenn das nichts nützt — zertreten sie mich einfach… Ach herrje! Sechs Uhr. Die Sonne brennt schon wieder.
Und da — für mich selber unerklärlich — verzog sich das kalte Tier aus meiner Brust. Ich stand auf, ging ruhig ins Zimmer hinüber, holte aus dem Schreibtisch meinen Papierkram und nahm den Kuli. In die Küche zurückgekehrt, legte ich alles hin, setzte mich und begann zu arbeiten.
Richtig denken konnte ich natürlich nicht, mein Kopf war wie mit Watte ausgestopft, die Augenlider brannten, aber ich sichtete aufmerksam und gewissenhaft die Entwürfe, sortierte aus, was ich nicht mehr brauchte, ordnete das übrige, nahm mein großes Heft und fing an, alles ins reine zu schreiben — ohne Hast, genüßlich, wobei ich exakt und sorgfältig die Worte wählte.
Viele mögen diese Arbeitsphase nicht — ich ja. Mir macht es Spaß, an der Sprache zu feilen, gemächlich und mit Gefühl nach den schönsten und treffendsten Ausdrücken zu suchen, die Fehler rauszufischen, die sich in die Rohfassung eingeschlichen haben, Diagramme zu zeichnen, Tabellen anzulegen. Das ist die edle Alltagsarbeit des Wissenschaftlers — da zieht er Bilanz, da hat er Gelegenheit, sich an sich selber und am Werk seiner Hände zu freuen. Und ich freute mich an mir selber und am Werk meiner Hände, bis plötzlich Irka neben mir erschien: mir den nackten Arm um den Hals schlang, ihre warme Wange an meine schmiegte.
„Ja?“ sagte ich und richtete mich auf. Das war meine altvertraute Irka, ganz und gar nicht mehr das Häufchen Unglück von gestern. Rosig, frisch, klaräugig und vergnügt — so stand sie neben mir. Meine Lerche. Ja, Irka ist eine Lerche. Ich bin eine Eule, und sie ist eine Lerche. So eine Klas sifizierung gibt es, hab ich mal gehört. Lerchen gehen früh zu Bett, schlafen leicht und gern ein, wachen ebenso leicht und gern auf und fangen gleich zu singen an, und keine Kalamität der Welt kann sie zwingen, etwa bis Mittag im Bett rumzulungern.
„Du hast wohl wieder gar nicht geschlafen?“ fragte sie und trat, ohne meine Antwort abzuwarten, an die Balkontür.
„Was ist denn da für ein Volksgemurmel?“
Erst da vernahm ich vom Hof her ein ungewöhnliches Stimmengewirr — in der Art, wie es bei Verkehrsunfällen herrscht, wenn die Miliz bereits erschienen und der Krankenwagen noch unterwegs ist.
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