„Ich bin bald verrückt geworden… Ich dachte schon, ich komm zu spät… Was ist bloß passiert?“ Die Hände ineinandergeschlungen, zwängten wir uns in die Küche, ich drückte sie sanft auf meinen Hocker, und Wetscherowski goss ihr schweigend den starken Tee aus dem Aufgusskännchen ein. Sie trank mit gierigen Zügen, verschüttete die Hälfte auf ihren Staubmantel. Sie war totenbleich und sah so jämmerlich aus, daß ich sie kaum wieder erkannte: die Augen rotgeweint, das Haar struppig und zerzaust. Da wurden mir die Knie weich, und ich sackte mit dem Rücken ans Spülbecken.
„Ist was mit Bobka?“ fragte ich mit steifer Zunge.
„Bobka?“ echote sie verständnislos.
„Wieso Bobka? Deinetwegen hab ich mich verrückt gemacht… Was ist passiert?“ schrie sie plötzlich.
„Warst du krank?“ Wieder tastete sie mich mit den Blicken ab.
„Du bist doch gesund wie ein Stier!“ Ich merkte, wie mein Unterkiefer abklappte, und schloss den Mund. Völlig unbegreiflich. Wetscherowski fragte betont ruhig:
„Hat man dir was Schlimmes über Dima mitgeteilt?“ Irkas Blick wanderte von mir zu ihm. Dann rannte sie plötzlich in den Flur und kehrte sofort wieder, wobei sie fieberhaft in ihrem Täschchen wühlte.
„Ja, seht nur, was ich bekommen habe… Seht nur…“ Kamm, Lippenstift, Geld, allerlei Zettel und Döschen flogen auf den Fußboden.
„Mein Gott, wo hab ich’s bloß… Aha!“ Sie schleuderte die Tasche auf den Tisch, schob die zitternde Hand in die Manteltasche — die sie nicht gleich fand — und brachte ein zerknülltes Telegramm zum Vorschein.
„Da!“
Ich riss das Telegramm an mich. Überflog es. Kapierte nichts…
SOFORT KOMMEN SNEGOWOI…
Ich überflog es noch mal, las es vor lauter Verzweiflung laut:
„DIMAS BEFINDEN SEHR SCHLECHT SOFORT KOMMEN SNEGOWOI… Wieso Snegowoi?“ fragte ich. „Warum Snegowoi?“
Wetscherowski nahm mir das Telegramm behutsam aus der Hand.
„Heute früh abgeschickt“, sagte er.
„Wann abgeschickt?“ fragte ich laut, als sei ich schwerhörig.
„Heute früh, neun Uhr zweiundzwanzig.“
„Mein Gott! Wie kann er bloß — ob das ein Scherz sein soll?“ sagte Irka…
18.…als mir. Eine Flugkarte bekam sie natürlich nicht. Mit dem Telegramm fuchtelnd, schlug sie sich zu irgendeinem Chef durch, der schrieb ihr einen Zettel aus, aber was nutzte das: Flugzeuge waren keine auf dem Flugplatz, und als welche kamen, flogen sie ganz woandershin. In ihrer Not stieg sie schließlich in eins, das sie nach Charkow brachte. Dort ging alles von vorn los, zu allem Überfluss goss es in Strömen, und erst gegen Abend kam sie nach Moskau weiter — mit einer Transportmaschine, die Kühlschränke und Särge flog.
In Moskau klappte es besser. Aus Domodedowo raste sie nach Scheremetjewo, und von dort aus gelangte sie schließlich in einer Pilotenkabine nach Leningrad. Sie hatte die ganze Zeit nichts gegessen und fast immerzu geheult. Noch im Einschlafen jammerte sie und drohte, gleich morgen früh würde sie zur Post gehen, die Miliz dazuholen und ganz bestimmt rauskriegen, welche Schurken das verbrochen hätten.
Selbstverständlich goss ich eifrig Öl ins Feuer: Ja, gewiss, das lassen wir uns nicht gefallen, wer solche Scherze treibt, verdient eins in die Fresse, ach was, der gehört ins Kittchen; natürlich erwähnte ich mit keiner Silbe, daß die Post solche Telegramme nicht ohne entsprechende Bescheinigung annimmt, daß heutzutage solchen Streichen, Gott sei Dank, ein Riegel vorgeschoben ist und daß dieses Telegramm höchstwahrscheinlich überhaupt keinen Absender hat, sondern vom Fernschreiber in Odessa selbsttätig getippt wurde…
Schlafen konnte ich nicht. Eigentlich war ja auch schon Morgen. Draußen war es ganz hell. Trotz der zugezogenen Gardine war es auch im Zimmer nicht viel anders. Eine Weile lag ich still, streichelte Kaljam, der sich zwischen uns rekelte, lauschte Irkas leisen, gleichmäßigen Atemzügen. Sie schlief immer sehr fest und ausgesprochen genussvoll. Keine Unannehmlichkeit der Welt konnte ihr den Schlaf rauben. Zumindest bis jetzt… Seitdem ich das Telegramm gelesen hatte, hielt mich eine widerwärtige, qualvolle Starre umfangen. Die Muskeln waren wie verkrampft, in meinem Innern, in der Brust und im Bauch, lag ein riesiger eiskalter Klumpen. Bisweilen drehte sich der Klumpen, und dann befiel mich ein Zittern. Nachdem Irka mitten im Wort verstummt und eingeschlafen war, hatte ich eine kurze Erleichterung verspürt: Ich war nicht allein, ja mehr noch-der mir wohl am nächsten stehende, liebste Mensch war bei mir. Doch da regte sich in meiner Brust die eisige Kröte, und entsetzt dachte ich: Wie tief bin ich gesunken, was haben die aus mir gemacht, daß ich es fertig bringe, mich über Irkas Gegenwart zu freuen, darüber, daß sie hier mit mir ins Trommelfeuer geraten ist. Nein! Niemals! Morgen, gleich morgen hol ich eine Flugkarte! Sie muss nach Odessa zurück… Da können tausend Schlangen stehen, mit Fäusten box ich mich zur Kasse durch… Mein armes Mädel, was hat sie nicht alles durch gemacht, bloß wegen dieser Halunken, wegen mir, wegen dieser beschissenen diffusen Materie, die samt und sonders nicht soviel wert ist wie ein einziges Fältchen in ihrem Gesicht. Jetzt greifen sie auch noch nach ihr. Nicht genug, daß sie mich fertig machen, nein, auch sie muss ran. Wozu? Was wollen die von Irka? Lumpenpack, blindwütiges, hauen um sich wie Amokläufer… Das heißt nein, ihr passiert schon nichts. Die machen bloß mir Angst. Wollen mich kirre kriegen, wenn nicht so, dann eben anders. Auf Biegen und Brechen… Plötzlich stellte ich mir den toten Snegowoi vor: Wie er in seinem riesigen gestreiften Hausanzug den Moskowski entlanggeht, klotzig, kalt, mit einem blutverkrusteten Loch im gigantischen Schädel; die Post betritt und sich am Telegrammschalter anstellt, in der Rechten die Pistole, in der Linken das Telegramm; und keiner merkt was, die Schalterange— stellte nimmt aus seinen toten Fingern das Telegramm, schreibt die Quittung aus und sagt, ohne an die Gebühr zu denken:
„Der nächste bitte…“ Ich schüttelte den Kopf, um das Schreckensbild zu verjagen, glitt vorsichtig von der Liege und tappte so, wie ich war, in Turnhosen, zur Küche. Dort war es schon taghell, auf dem Hof tschilpten eifrig die Spatzen, scharrte der Besen des Hauswarts. Ich nahm Irkas Täschchen, fand eine zerdrückte Schachtel mit zwei geknickten Zigaretten, setzte mich an den Tisch und rauchte. Geraucht hatte ich lange nicht mehr. Zwei Jahre nicht, vielleicht sogar drei… Hatte Willenskraft bewiesen. Ja, mein lieber Malja-now. Jetzt wirst du sie brauchen, deine ganze Willenskraft. Scheiße, ich bin ein miserabler Schauspieler, nicht mal richtig lügen kann ich. Aber Irka darf nichts erfahren. Es soll ihr erspart bleiben. Ich muss es allein durchstehen. Helfen kann mir niemand. Wieso denn helfen? besann ich mich plötzlich. Darum geht’s ja gar nicht. Sondern darum, daß ich Irka sowieso nie was von meinen Schwierigkeiten erzähle, wenn’s nicht sein muss. Ich mag ihr keinen Kummer bereiten. Freude bereit ich ihr gern, aber Kummer — nein! Wär nicht dieser ganze Mist — wie gern hätt ich ihr jetzt von meinen Kavernen erzählt, sie würde gleich alles verstehen, sie ist ein kluges Kind, obwohl ihr Theorie nicht liegt und sie dauernd klagt, sie sei dumm… Aber was soll ich ihr jetzt erzählen? Ein Elend ist das… An sich ist Schwierigkeit nicht gleich Schwierigkeit. Es gibt Schwierigkeiten unterschiedlicher Größenordnung. Über die winzigen — über die darf man ruhig klagen, das tut sogar wohl. Irka sagt: Unsinn, was regst du dich auf! und gleich wird einem leichter. Wenn es aber hart kommt, ist es einfach unmännlich, darüber zu reden. Dann erfahren weder Mutter noch Irka etwas. Und schließlich gibt es Schwierigkeiten solchen Kalibers, daß man nicht mehr aus noch ein weiß. Erstens: Ob es mir passt oder nicht — auch Irka ist unter Beschuss geraten. So ein Widersinn, so eine Ungerechtigkeit. Auf mir haut man rum wie auf einer Pauke, aber ich weiß wenigstens, wofür, ahne, wer, und weiß, daß man’s auf mich abgesehen hat. Dass es keine blöden Streiche und Schicksalsschläge sind, sondern gezielte Schüsse.
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