„Maartens!“ — rief ich. „Ganimaldi!!“
Automatisch sah ich auf die Uhr: es war fünf nach acht. Ich hielt sie ans Ohr: sie ging. Die Explosion war um sieben Uhr zwanzig erfolgt; alles Weitere hatte vielleicht eine halbe Minute gedauert. Fast drei Viertelstunden lang war ich bewußtlos gewesen?
Ich ging den Hang hinauf. Etwa dreißig Meter weit vom Gipfel der Anhöhe stieß ich auf die ersten Kahlstellen ausgebrannter Erde. Sie waren mit bläulicher, fast schon erkalteter Asche bedeckt, wie die Spur, daß hier jemand ein Lagerfeuer entzündet hätte. Aber das mußte ein sehr merkwürdiges Lagerfeuer gewesen sein, denn es war nicht auf der Stelle verharrt.
Von der verkohlten Stelle ging ein Streifen versengter Erde aus, etwa anderthalb Meter breit, gewellt, mit verkohltem Gras an beiden Rändern und lediglich vergilbtem und welkem Gras in etwas weiterer Entfernung. Dieser Streifen endete nach dem nächsten Kreis verbrannter Erde. Dicht daneben lag mit dem Gesicht nach unten, ein Knie fast bis zur Brust hochgezogen, ein Mensch. Ehe ich ihn noch anrührte, wußte ich, daß er tot war. Der scheinbar unversehrte Anzug hatte sich ins Silbergraue verfärbt, die gleiche unmögliche Farbe hatte der Nacken des Menschen, und als ich mich über ihn beugte, begann das alles unter meinem Atem zu zerstieben.
Ich sprang mit einem Schreckensruf zurück, aber da hatte ich bereits eine gekrümmte, schwärzliche Form vor mir, die nur dem allgemeinen Umriß nach an einen menschlichen Körper erinnerte. Ich wußte nicht, ob das Maartens oder Ganimaldi war, und ich hatte nicht den Mut, ihn anzufassen, denn ich ahnte, daß er schon ohne Gesicht war. Ich rannte in großen Sätzen auf den Gipfel des Hügels, aber ich rief nicht mehr. Wieder traf ich auf die Spur des feurigen Durchzugs, einen gewundenen, zu Kohle ausgebrannten schwarzen Pfad durchs Gras, der sich stellenweise zu den Ausmaßen eines Kreises von mehreren Metern erweiterte.
Ich erwartete den Anblick des zweiten Körpers, aber ich fand ihn nicht. Ich lief vom Gipfel bergab, dorthin, wo vorher unsere Grube gewesen war; von der Schutzwand aus Panzerglas war nur ein am Hang zerronnener platter Überzug geblieben, etwas wie eine gefrorene Pfütze. Alles andere — Apparate, Filmkameras, das Pult, die Ferngläser — hatte zu existieren aufgehört, und der Graben selbst war eingesunken, wie unter von oben einwirkendem Druck; nur ein paar Scherben geschmolzenen Metalls waren zwischen den Steinen zu sehen. Ich blickte zum Laboratorium hinüber. Es sah aus wie nach der Detonation einer starken Fliegerbombe. Zwischen den Brocken beim Sturz verkeilter Mauern flatterten, in der Sonne kaum sichtbar, die Flämmchen des erlöschenden Brandes. Ich sah das kaum, ich suchte mich darauf zu besinnen, in welche Richtung meine Gefährten nach unserem gleichzeitigen Sprung aus dem Erdloch gelaufen waren. Maartens hatte ich damals zur Linken gehabt, also war es wohl sein Körper, den ich entdeckt hatte — und Ganimaldi…?
Ich fing an, seine Spuren zu suchen, vergeblich, denn außerhalb des ausgebrannten Kreises hatte sich das Gras schon wieder aufgerichtet. So lief ich, bis ich einen anderen ausgebrannten Streifen fand; ich begann auf ihm bergab zu gehen, wie auf einem unter den Sohlen knarrenden Feldweg.. da erstarrte ich. Die Aschenspur erweiterte sich; Halme von totem Gras umringten einen Raum, der nicht mehr als zwei Meter lang war, und unregelmäßig geformt. An einem Ende war er schmäler, am anderen hatte er Abzweigungen… das alles zusammen erinnerte an ein deformiertes plattgewalztes Kreuz, es war mit einer ziemlich dicken Schicht von schwärzlichem Staub bedeckt, als wäre die waagrecht hingeworfene Holzfigur mit den ausgespannten Armen hier sehr lang verglommen… Aber vielleicht war das nur Einbildung? Ich weiß es nicht.
Schon seit langem schien es mir, als hörte ich fernes, durchdringendes Heulen, aber ich achtete nicht darauf. Auch menschliche Stimmen drangen zu mir, auch sie kümmerten mich nicht. Plötzlich sah ich die kleinen Menschenfiguren auf mich zulaufen; im ersten Moment warf ich mich zu Boden, als wollte ich mich verstecken, ich kroch sogar von der Aschenspur weg und sprang zur Seite; als ich den anderen Abhang entlanglief, tauchten sie plötzlich auf, sie umstellten mich von zwei Seiten. Ich fühlte, daß mir die Beine den Dienst versagten, im übrigen war mir alles eins.
Ich weiß eigentlich nicht, warum ich flüchtete — sofern das ein Fluchtversuch war. Ich setzte mich ins Gras, und die Leute umringten mich, einer beugte sich über mich, sagte etwas, ich sagte, er solle aufhören, sie sollten lieber Ganimaldi suchen, denn mir fehle nichts. Als sie mich hochheben wollten, wehrte ich mich, da packte mich jemand am Oberarm. Ich schrie vor Schmerz. Dann spürte ich einen Nadelstich und verlor das Bewußtsein. Ich erwachte im Spital.
Mein Gedächtnis war bestens erhalten. Nur wußte ich nicht, wieviel Zeit seit der Katastrophe verstrichen war. Ich hatte den Kopf in Verbänden stecken, die Verbrennungen machten sich bemerkbar, durch starken Schmerz, der sich bei jeder Bewegung steigerte; ich suchte mich also so ruhig wie möglich zu verhalten. Im übrigen sind meine Spitalerlebnisse, alle diese Hauttransplantationen, die man mir monatelang machte, gar nicht von Bedeutung, ebensowenig wie das, was später geschah. Im übrigen konnte ja nichts anderes geschehen. Erst viele Wochen später las ich in den Zeitungen die offizielle Lesart über den Unfall. Man hatte eine einfache Erklärung gefunden, die sich im übrigen aufdrängte. Das Laboratorium war durch eine Plasmaexplosion zerstört worden; von Flammen erfaßt, hatten die drei Männer zu flüchten versucht; von ihnen war Ganimaldi im Gebäude umgekommen, unter den Trümmern, Maartens war in brennender Kleidung gestorben, als er den Gipfel des Hügels erreicht hatte, und ich hatte die Katastrophe mit Verbrennungen und in schwerem Schockzustand überstanden. Die eingeäscherten Spuren im Gras hatte man überhaupt nicht beachtet, da vor allem die Laboratoriumsruine selbst untersucht worden war. Irgend jemand behauptete übrigens, das Gras habe durch den brennenden Maartens Feuer gefangen, der sich dort gewälzt hätte, weil er die Flammen habe ersticken wollen. Und so weiter.
Ich hielt es für meine Pflicht, nun schon allein Ganimaldi und Maartens gegenüber, ungeachtet aller Konsequenzen die Wahrheit zu sagen. Sehr behutsam gab man mir zu verstehen, meine Version der Vorfälle sei die Auswirkung des Schocks, eine sogenannte posttraumatische Erinnerungsfälschung. Ich hatte mein Gleichgewicht noch nicht wiedergewonnen, ich begann heftig zu protestieren — meine Erregung wurde als Symptom aufgefaßt, das die Diagnose bestätige. Etwa eine Woche später fand das nächste Gespräch statt.
Diesmal suchte ich bereits kühler zu argumentieren, ich erzählte von dem ersten Film, den wir gedreht hatten und der sich in der Wohnung von Maartens befand; die Durchsuchung blieb aber ergebnislos. Ich vermute, daß Maartens ausgeführt hatte, was er einmal nebenher erwähnt hatte: gewiß hatte er den Film in ein Bankfach gelegt. Da alles, was Maartens bei sich gehabt hatte, völliger Zerstörung anheimgefallen war, blieb von dem Schlüssel und dem Depotschein nichts übrig. Dieser Film muß bis auf den heutigen Tag in irgendeinem Safe liegen. So verspielte ich denn auch hier; ich gab jedoch nicht alles verloren, und auf meine wiederholte Forderung hin kam es zum Lokalaugenschein. Ich sagte, an Ort und Stelle könne ich alles beweisen, die Ärzte wiederum meinten, wenn ich mich erst dort befände, könnte mir vielleicht die Erinnerung an das „wirkliche“ Geschehen zurückkehren. Ich wollte ihnen die Kabel zeigen, die wir zum Gipfel des Hügels gezogen hatten, zum Erdloch. Aber auch diese Kabel waren nicht da. Ich behauptete, wenn keine da seien, dann seien sie später entfernt worden, vielleicht von den Mannschaften, die den Brand bekämpft hatten. Mir wurde gesagt, ich irre mich, niemand habe Kabel entfernt, da sie nicht existierten, außer in meiner Einbildung.
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