Die ersten Plasmaflämmchen, die in den Laboratorien aufkeimten, waren auch nicht gar so warm: zweihunderttausend Grad hielt man damals für eine achtbare Temperatur, und die Million war bereits eine außerordentliche Errungenschaft. Die Mathematik jedoch, diese primitive und angenäherte Mathematik, die aus der Kenntnis von Phänomenen der Kältezone entstanden war, versprach die Erfüllung der ins Plasma gesetzten Hoffnungen noch wesentlich höher auf der Skala der Wärmemessung, forderte rechtschaffen hohe, fast sterngemäße Temperaturen; selbstverständlich denke ich an das Innere der Sterne. Das müssen ungemein interessante Örtlichkeiten sein, wenn auch die persönliche Anwesenheit des Menschen dort gewiß noch auf sich warten lassen wird.
So wurden denn Millionentemperaturen benötigt. Man begann sie zu realisieren, wir arbeiteten auch daran — und was sich herausstellte, war dies:
Die Geschwindigkeit der Umwandlungen, gleichviel, was für welcher, vergrößert sich dem Temperaturanstieg entsprechend; angesichts der bescheidenen Möglichkeiten eines so flüssigen Tröpfchens, wie unser Auge es ist, in Verbindung mit einem zweiten, größeren Tropfen, worin das Gehirn besteht, ist selbst die Flamme einer gewöhnlichen Kerze schon das Reich um ihres Tempos willen unbemerkbarer Phänomene, geschweige denn das zitternde Feuer des Plasmas! So mußte zu anderen Methoden gegriffen werden, Plasmaentladungen wurden fotografiert, und wir taten dies auch. Endlich bastelte Maartens, unterstützt von ein paar Bekannten, Optikern und Mechanik-Ingenieuren, eine Filmkamera, ein wahres Wunder, zumindest gemessen an unseren Möglichkeiten, eine Kamera, die Millionen von Aufnahmen in der Sekunde machte. Ihre Konstruktion will ich hier beiseite lassen, sie war ungemein pfiffig und zeugte rühmlich von unserem Eifer. Jedenfalls ruinierten wir Kilometer von Filmstreifen, aber im Ergebnis erzielten wir ein paar hundert Meter, die Beachtung verdienten, und ließen das in verlangsamtem Tempo tausendmal und dann auch zehntausendmal ablaufen. Wir bemerkten nichts Besonderes, außer, daß sich gewisse Auffackelungen, die man zunächst für ein elementares Phänomen gehalten hatte, als Gemengsel erwiesen, die durch das Übereinanderlagern von tausenderlei sehr schnellen Umwandlungen entstehen; doch auch diese ließen sich zuletzt mit unserer primitiven Mathematik bewältigen.
Das Staunen befiel uns erst, als einmal durch ein bis jetzt nicht erklärtes Versehen oder aus irgendeiner unverschuldeten Ursache eine Explosion erfolgte. Eigentlich war das keine wirkliche Explosion, denn die hätten wir nicht überlebt; das Plasma überwand einfach in einem apokalyptisch kleinen Sekundenbruchteil das Magnetfeld, das es von allen Seiten zusammenpreßte, und zerschlug uns die dickwandige Quarzröhre, worin es eingekerkert war.
Dank einem glücklichen Zusammentreffen von Umständen blieb unsere das Experiment aufnehmende Kamera heil, mitsamt dem eingelegten Film. Die ganze Explosion dauerte genau Millionstelsekunden, das übrige war nur noch die Brandstätte nach allen Seiten wegschießender Tröpfchen aus geschmolzenem Quarz und Metall. Diese Nanosekunden wurden auf unserem Film als ein Phänomen aufgezeichnet, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde.
Unmittelbar vor der Explosion schnürte sich die bisher fast gleichförmige Schnur der Plasmaflamme in gleichen Abständen ab wie eine gezupfte Saite, dann zerfiel sie in eine Reihe runder Körner und hörte so auf, als Ganzes zu existieren. Jedes der Körner wuchs und bildete sich um, die Grenzen dieser Tröpfchen aus Atomglut wurden fließend, Keimlinge trieben daraus hervor, und aus ihnen entstand die nächste Generation von Tröpfchen, dann liefen alle diese Tröpfchen zur Mitte hin zusammen und bildeten eine abgeplattete Kugel, die, schrumpfend und sich blähend, gleichsam atmete und zugleich etwas wie feurige und mit den Enden zuckende Tentakel auf Kundschaft in die Umgebung aussandte; dann erfolgte, diesmal auch schon auf unserem Film, sofortiger Zerfall, Schwund jedweder Organisation, und nur ein Regen feuriger Spritzer war zu sehen, die das Gesichtsfeld peitschten, bis es in völligem Chaos ertrank.
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß wir uns diesen Film gut hundertmal anschauten. Dann — ich gebe zu, das war mein Einfall — luden wir zu uns, nicht ins Laboratorium, sondern in Ganimaldis Wohnung, einen gewissen bekannten Biologen ein, eine ehrwürdige Berühmtheit. Ohne ihm vorher etwas zu sagen oder ihn auf irgend etwas vorzubereiten, schnitten wir nur das Mittelstück aus dem berühmten Film heraus und projizierten es vor den Augen des hochlöblichen Gastes mit einem normalen Apparat, nur daß wir auf das Objektiv einen dunklen Filter aufsetzten, so daß alles, was auf der Aufnahme aus Flammen war, nunmehr erblaßte und aussah wie ein ziemlich stark durch auffallendes Licht beleuchteter Gegenstand.
Der Professor sah unseren Film an, und als die Lampen aufleuchteten, äußerte er höfliche Verwunderung darüber, daß wir als Physiker uns mit für uns so entlegenen Dingen wie dem Leben der Aufgußtierchen im Aquarium befaßten. Ich fragte, ob er sicher sei, daß das, was er gesehen habe, wirklich eine Kolonie von Aufgußtierchen sei.
Ich erinnere mich an sein Lächeln, als wäre das heute gewesen. „Die Aufnahmen waren nicht scharf genug“ — bekundete er während dieses Lächelns — „und, mit Verlaub, man erkennt, daß sie von Laien gemacht worden sind, aber ich kann Ihnen versichern, das ist kein Artefakt…“
„Was verstehen Sie unter einem Artefakt?“ — fragte ich.
„Arte factum, also etwas künstlich Geschaffenes. Noch zu Schwanns Zeiten vergnügte man sich mit der Imitation lebender Formen, und zwar indem man Chloroformtröpfchen in Öl brachte; solche Tropfen führen amöbenhafte Bewegungen aus, kriechen über den Boden des Gefäßes und teilen sich sogar bei Änderung des osmotischen Drucks an den Polen, aber das sind rein äußerliche, primitive Ähnlichkeiten, die soviel mit dem Leben gemein haben wie eine Schaufensterpuppe mit einem Menschen. Entscheidend ist ja der innere Bau, die Mikrostruktur. Auf eurer Aufnahme sieht man, wenn auch undeutlich, wie die Teilung dieser Einzeller verläuft; die Gattung kann ich nicht bestimmen, und ich könnte nicht einmal Gift darauf nehmen, daß es nicht ganz einfach Zellen tierischen Gewebes sind, die lange Zeit hindurch auf künstlichen Nährböden gezüchtet und mit Hialuronidase behandelt wurden, um sie zu trennen, voneinander abzulösen; jedenfalls sind es Zellen, denn sie haben den Chromosomensatz, wenn er auch defekt ist. Wurde die Umwelt dem Einwirken irgendeines krebsbildenden Mittels ausgesetzt?…“
Nicht einmal Blicke warfen wir einander zu. Wir bemühten uns, seine immer zahlreicheren Fragen nicht zu beantworten. Ganimaldi bat den Gast, den Film nochmals anzuschauen, aber dazu kam es dann nicht, ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen, vielleicht war der Professor in Eile, oder vielleicht dachte er, hinter unserer Einsilbigkeit verberge sich irgendeine Fopperei. Ich erinnere mich wirklich nicht. Jedenfalls blieben wir allein zurück, und erst als sich hinter jener Autorität die Tür geschlossen hatte, schauten wir einander an, wahrhaft entgeistert.
„Hört zu“ — sagte ich, bevor einer zum Reden kam — „ich finde, wir sollten einen anderen Spezialisten einladen und ihm den ungeschnittenen Film zeigen. Jetzt, wo wir wissen, worum gespielt wird, muß das schon ein Fachmann reinsten Wassers sein — auf dem Gebiet der Einzeller.“
Maartens schlug einen seiner Universitätsbekannten vor, der in der Nähe wohnte. Er war aber nicht daheim, erst nach einer Woche kehrte er zurück, und nun kam er zu der sorgsam vorbereiteten Vorführung. Ganimaldi hatte sich nicht dafür entschieden, ihm die Wahrheit zu sagen, sondern zeigte ihm einfach den ganzen Film, mit Ausnahme des Anfangs; denn das Bild der Verwandlung, dort, wo sich die Plasmaschnur zu einzelnen, fiebrig zuckenden Tropfen einschnürte, hätte allzuviel zu denken geben können. Dafür projizierten wir diesmal das Ende, diese letzte Existenzphase der Plasma-Amöbe, die auseinanderflog wie eine Sprengladung.
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