»Beeil dich«, zischte er und führte sie durch einen versteckten Spalt in die Höhle. »Es wird bald hell sein«, fügte er hinzu, während er das Türsiegel offenhielt. »Die Harkonnens unternehmen jetzt regelmäßig Erkundungsvorstöße in dieses Gebiet, und wir können es uns nicht leisten, entdeckt zu werden.«
Sie gelangten in die Vorhöhle. Leuchtgloben schienen. Otheym drückte sich an ihr vorbei und sagte: »Folge mir. Und beeil' dich.«
Sie schritten durch einen Gang, bogen ab und betraten schließlich einen Raum, der zu jener Zeit, als man die Höhle der Vögel noch für eine Zwischenstation gehalten hatte, den Zwecken einer Sayyadina gedient hatte. Jetzt bedeckten Teppiche und Sitzkissen den Boden. Die Wände waren mit Behängen bedeckt, die einen Habicht zeigten. Ein niedriger Tisch, auf dem mehrere Papiere ausgebreitet lagen, deutete darauf hin, daß man hier vor kurzem offenbar eine Besprechung abgehalten hatte.
Die Ehrwürdige Mutter saß dem Eingang genau gegenüber. Als Chani eintrat, maß sie sie mit einem Blick, der so stark nach innen gerichtet war, daß er das Mädchen zum Zittern brachte.
Otheym legte die Handflächen gegeneinander und sagte: »Ich habe Chani gebracht.« Dann verbeugte er sich und zog sich zurück.
Jessica dachte: Wie bringe ich es ihr bei?
»Wie geht es meinem Enkel?« fragte sie.
So erfordert es das Ritual, dachte Chani. Ihre Ängste kehrten zurück. Wo ist Muad'dib? Warum erscheint er nicht persönlich, um mich zu begrüßen?
»Er ist gesund und glücklich, meine Mutter«, erwiderte sie. »Ich habe ihn bei Alia und Harah zurückgelassen.«
Meine Mutter, dachte Jessica. Ja, sie hat das Recht, mich so zu nennen. Schließlich hat sie mir einen Enkel geschenkt.
»Ich hörte, daß man euch vom Coanua-Sietch einige Stoffe geschickt hat«, sagte Jessica.
»Es sind herrliche Stoffe«, bestätigte Chani.
»Hat dir Alia eine Botschaft mitgegeben?«
»Nein. Aber es geht jetzt besser im Sietch, nachdem die Leute ihren Status akzeptiert haben.«
Warum redet sie so um den heißen Brei herum? fragte sich Chani. Wenn sie sogar einen Thopter eingesetzt haben, um mich herzubringen, muß etwas Dringendes vorliegen. Aber egal — wenn es nicht anders geht, werde ich die Formalitäten hinzunehmen haben.
»Aus den Stoffen, die die Leute geschickt haben, könnte man einige Kleider für Leto machen«, sagte Jessica.
»Wie du meinst, meine Mutter«, erwiderte Chani. Sie löste ihren Schleier. »Gibt es neue Nachrichten vom Schlachtfeld?« Sie versuchte, möglichst unbeteiligt dreinzuschauen, damit Jessica nicht bemerkte, was sie wirklich interessierte: wie es Paul ging.
»Neue Siege wurden errungen«, erklärte Jessica. »Rabban hat sogar schon um einen Waffenstillstand bitten lassen. Man schickte seine Parlamentäre zurück nachdem man ihnen ihr Wasser genommen hatte. Er bemüht sich jetzt, den Bewohnern der Dörfer das Leben etwas zu erleichtern, aber die Leute wissen genau, daß er das nur tut, weil er Angst vor uns hat.«
»Also geht es genauso, wie Muad'dib es voraussagte«, erwiderte Chani. Sie starrte Jessica an und versuchte weiterhin, ihre Ängste um Paul vor ihr zu verbergen. Ich habe seinen Namen ausgesprochen, dachte sie, aber sie reagiert nicht darauf. Es ist unmöglich, hinter dieser Maske, die sie ihr Gesicht nennt, die kleinste Emotion zu erkennen. Sie ist wie ein Eisblock. Hat das einen Grund? Ist meinem Usul etwas zugestoßen?
»Ich wünschte, wir wären im Süden«, sagte Jessica. »Die Oasen waren so herrlich, als wir sie verließen. Kannst du es nicht auch kaum noch erwarten, bis das ganze Land so aussieht?«
»Das Land ist schön, das stimmt«, entgegnete Chani, »aber es steckt auch viel Mühe und Kummer in ihm.«
»Das ist der Preis der Freiheit«, versetzte Jessica.
Soll das bedeuten, daß sie dabei ist, mich auf ein neues Leid vorzubereiten? fragte Chani sich. »Es sind sehr viele Frauen ohne ihren Mann«, sagte sie, »daß es schon zu Eifersüchteleien kam, als man mich holte.«
»Ich habe dich rufen lassen«, eröffnete ihr Jessica.
Chani bemerkte, daß ihr Herz zu hämmern begann. Sie unterdrückte das Verlangen, sich beide Ohren zuzustopfen. Irgend etwas würde jetzt kommen. Etwas Schreckliches. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, sagte sie: »Die Nachricht, die ich erhielt, war von Muad'dib unterzeichnet.«
»Ich unterzeichnete sie im Beisein von zweien seiner Unterführer«, gab Jessica zu. »Es war eine notwendige Sache.« Und sie dachte: Chani ist eine tapfere Frau. Sie ist sogar in der Lage, ihre Angst zu überspielen, wenn sie sie innerlich zerreißt. Ja, Sie könnte genau die Frau sein, die wir jetzt brauchen.
Es war kaum das kleinste Anzeichen von Resignation in Chanis Stimme, als sie sagte: »Sage mir jetzt, was du sagen mußt.«
»Du solltest mir helfen, Paul wieder zum Leben zu erwecken«, sagte Jessica und dachte im gleichen Augenblick: Das war genau das richtige Wort. Ihn zum Leben zu erwecken. Jetzt weiß sie, daß er lebt und sich gleichzeitig in einer großen Gefahr befindet.
Chani brauchte nur eine Sekunde, um zu fragen: »Was soll ich tun?« Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, auf Jessica zu stürzen und sie schütteln zu müssen. Es kostete sie einiges, nicht laut loszuschreien: »Bringe mich zu ihm!« Gefaßt wartete sie auf eine Antwort.
»Ich vermute«, sagte Jessica, »daß die Harkonnens einen Agenten in unsere Reihen eingeschmuggelt haben, um Paul zu vergiften. Es scheint mir die einzig logische Erklärung zu sein. Ein äußerst ungewöhnliches Gift haben sie eingesetzt. Ich habe sein Blut untersucht, ohne es jedoch entdecken zu können.«
Chani fiel auf die Knie. »Vergiftet? Hat er Schmerzen? Was könnte ich …«
»Er ist ohne Bewußtsein«, erklärte Jessica. »Alle seine Lebensprozesse laufen so langsam ab, daß man sie nur noch mit den kompliziertesten Geräten messen kann. Zum Glück war ich es der ihn in diesem Zustand fand. Jeder Laie müßte ihn unweigerlich für tot halten.«
»Du hast mich nicht aus reinen Höflichkeitsgründen rufen lassen«, erwiderte Chani. »Ich kenne dich, Ehrwürdige Mutter. Was, glaubst du, kann ich für Paul tun, das du nicht tun kannst?«
Sie ist tapfer, liebreizend und hat eine schnelle Auffassungsgabe, dachte Jessica. Aus ihr wäre eine ungewöhnlich gute Bene Gesserit geworden.
»Chani«, begann sie, »du wirst es sicherlich kaum glauben, aber ich weiß wirklich nicht, warum ich nach dir geschickt habe. Es war ein Instinkt … eine grundsätzliche Intuition. Es durchdrang mich ganz plötzlich: Schicke nach Chani.«
Zum erstenmal konnte Chani jetzt so etwas wie Trauer in Jessicas Gesicht erkennen.
»Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand«, fuhr Jessica fort. »Und das ist alles … und es ist weit mehr als das, was man sich gemeinhin unter allem vorstellt. Dennoch habe ich versagt.«
»Dieser alte Freund von Paul«, sagte Chani, »dieser Halleck. Ist es möglich, daß er diesmal der Verräter war?«
»Nicht Gurney«, sagte Jessica. Die beiden Worten enthielten soviel, daß Chani keinen Augenblick daran zweifelte, daß die Ehrwürdige Mutter diese Möglichkeit bereits überprüft und als unmöglich beiseite gelegt hatte.
Sie stand auf und glättete ihre Robe. »Ich möchte ihn sehen«, sagte sie.
Jessica erhob sich und zerteilte die Vorhänge zu ihrer Linken.
Chani folgte ihr und fand sich in einem Zimmer wieder, das einst ein Lagerraum gewesen zu sein schien. Jetzt waren die steinernen Wände mit schweren Teppichen bedeckt. An der gegenüberliegenden Wand lag Paul auf einem Feldbett. Ein einzelner Leuchtglobus beschien von der Decke her sein Gesicht. Eine schwarze Robe bedeckte seinen Körper bis zur Brust, während seine Arme schlaff und leblos neben ihm lagen. Er schien unter der Robe unbekleidet zu sein. Seine Haut erschien wächsern. An seinem gesamten Körper konnte man nicht die geringste Muskelbewegung ausmachen.
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