Frank Herbert
Der Wüstenplanet
Den Menschen, deren Beschäftigung über das Gebiet ›realistischer Projekte‹ hinausgeht; den Trockenland-Ökologen, wo immer sie wirken werden oder zu welcher Zeit, ist dieser Versuch einer Voraussage in Anerkennung und Verehrung zugeeignet.
Erstes Buch
Der Wüstenplanet
Die größte Sorgfalt zu Beginn eines jeden Unternehmens sollte man auf die gleichmäßige Verteilung der Kräfte legen. Dies ist einer jeden Schwester der Bene Gesserit bekannt. Achte deshalb zu Beginn Deines Studiums über das Leben des Muad'dib darauf, in welcher Zeit er lebte: Er wurde im 57. Herrschaftsjahr des Padischah-Imperators Shaddam IV. geboren. Aber Dein Hauptaugenmerk solltest Du der Umgebung entgegenbringen, in der er lebte: die des Planeten Arrakis. Daß Muad'dib auf Caladan geboren wurde und dort die ersten fünfzehn Lebensjahre verbrachte, sollte zu keiner Selbsttäuschung führen. Arrakis, die Welt, die unter der Bezeichnung ›Wüstenplanet‹ bekannt ist, wurde seine ewige Heimat.
Aus ›Leitfäden des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.
In der letzten Woche vor ihrem Abflug nach Arrakis, als die allgemeine Aufregung nicht nur zu einem Höhepunkt, sondern beinahe zu einer Unerträglichkeit geworden war, empfing die Mutter des Knaben Paul den Besuch einer Greisin.
Eine warme Nacht lag über dem alten Gemäuer von Burg Caladan, das der Familie Atreides seit sechsundzwanzig Generationen eine Heimstatt gewesen war [1] Zu den wichtigsten Personen vgl. »Der Almanak en-Ashraf« im Anhang (Appendix IV).
. Draußen schwebte feuchter Dunst. Er kündigte einen bevorstehenden Wetterwechsel an.
Man ließ die alte Frau durch einen Seiteneingang ein und führte sie durch einen gruftähnlichen Korridor zu dem Zimmer, in dem der Knabe in seinem Bett lag. Sie warf einen kurzen Blick auf ihn. Im Halbdunkel der in der Nähe des Bodens schwebenden Suspensorenlampe erblickte der erwachende Junge den Umriß einer korpulenten Gestalt, die einen Schritt neben der seiner Mutter stand. Sie wirkte auf ihn wie ein hexenhafter Schatten mit verfilztem Haupthaar unter einer weiten Kapuze und juwelenartig glitzernden Augen.
»Ist er nicht ein wenig klein für sein Alter, Jessica?« fragte sie. Ihre Stimme klang wie das Klirren eines ungestimmten Balisets.
»Die Atreides sind bekannt dafür, daß sie erst spät zu wachsen anfangen, Euer Ehrwürden«, erwiderte seine Mutter mit ihrer sanften Altstimme.
»Ich habe davon gehört«, erwiderte die alte Frau. »Aber immerhin ist er schon fünfzehn.«
»Ja, Euer Ehrwürden.«
»Er ist wach und hört uns zu«, sagte die alte Frau. »Dieser kleine Schelm.« Sie kicherte. »Aber königliches Geblüt muß über eine gewisse Portion an Gerissenheit verfügen. Und wenn er wirklich der Kwisatz Haderach ist … nun …«
In der Dunkelheit seines Bettes öffnete Paul die Augen zu einem kleinen Schlitz. Zwei glänzende Ovale — die Augen der alten Frau — schienen, je länger sie in die seinen starrten, größer und größer zu werden.
»Schlafe gut, du gerissener kleiner Schelm«, sagte die alte Frau. »Wenn du morgen meinem Gom Jabbar begegnest, wirst du alle Register deines Könnens ziehen müssen.«
Dann ging sie hinaus, drückte Pauls Mutter beiseite und schloß die Tür mit einem festen Schlag.
Wach lag Paul da und dachte: Was ist ein Gom Jabbar?
Von allen einschneidenden Veränderungen der letzten Zeit war die Bekanntschaft mit der Alten die Merkwürdigste gewesen.
Euer Ehrwürden.
Und die Art, in der sie seine Mutter einfach Jessica genannt hatte. Als sei sie eine gewöhnliche Bedienstete. Und das, wo sie eine Dame der Bene Gesserit war und die Konkubine eines Herzogs und Mutter seines Erben.
Ist ein Gom Jabbar etwas von Arrakis? Etwas, von dem ich wissen muß, bevor wir von hier fortgehen? dachte er. Die seltsamen Worte lagen auf seiner Zunge: Gom Jabbar … Kwisatz Haderach.
Er hatte noch so viel zu lernen. Arrakis würde von Caladan so verschieden sein, daß dieses neue Wissen sein bisheriges Bewußtsein völlig verändern konnte. Arrakis. Der Wüstenplanet.
Der Befehlshaber der Assassinen seines Vaters, Thufir Hawat, hatte ihm erklärt, daß Arrakis während der letzten achtzig Jahre das Lehen der Harkonnens, der Todfeinde der Atreides', gewesen sei, weil sie mit der MAFEA [2] MAFEA: Merkantile Allianz für Fortschritt und Entwicklung im All. — Siehe das Glossar im Anhang.
einen Vertrag abgeschlossen hatten, der ihnen die alleinigen Schürfrechte beim Abbau des altershemmenden Gewürzes Melange zusicherte. Jetzt, wo Herzog Leto Atreides das Lehen zugesprochen worden war, mußten die Harkonnens Arrakis verlassen. Aber das war für Herzog Leto nur ein scheinbarer Sieg. Sein Erscheinen auf dem Wüstenplaneten würde unzweifelhaft zu bösem Blut führen, auch wenn er unter den Hohen Häusern des Landsraad einige Beliebtheit genoß. »Ein beliebter Mann zieht die Eifersucht der Mächtigen auf sich«, hatte Hawat gesagt.
Arrakis. Der Wüstenplanet.
Paul schlief ein. Er träumte von arrakisischen Höhlen und schweigenden Menschen, die im Halbdunkel von glühenden Kugeln neben ihm gingen. Alles wirkte feierlich, wie im Inneren einer Kathedrale, und aus der Ferne lauschte er einem schwachen Geräusch — dem Plip plip plip tropfenden Wassers. Paul wußte genau, daß es ein Traum war und daß er sich nach dem Erwachen wieder an ihn erinnern würde. Er erinnerte sich immer an Träume, die seine Zukunft voraussagten.
Der Traum verblaßte.
Halbwach fand Paul sich in der Wärme seines Bettes wieder. Er dachte nach. Die Welt von Burg Caladan, in der es für ihn keine gleichaltrige Gesellschaft gab, verdiente seinen im Angesicht des Abschieds zutage tretenden Schwermut nicht. Zudem hatte Dr. Yueh, sein Lehrer, ihn darauf hingewiesen, daß das Klassensystem der Faufreluches auf Arrakis weniger strikt gehandhabt wurde. Der Planet war von Menschen bewohnt, die an den Rändern der Wüsten lebten, ohne daß sie von Caids oder Bashars herumkommandiert wurden: das Sandvolk der Fremen, das sich bisher jeder Volkszählung durch das Imperium entzogen hatte.
Arrakis. Der Wüstenplanet.
Die Verkrampfung seines Körpers fühlend, beschloß Paul, eine der Geist-Körper-Lektionen auszuführen, die ihn seine Mutter gelehrt hatte. Drei schnelle Atemzüge entspannten ihn: Er sank hinein in das treibende Wissen … fixiert auf sein Bewußtsein und die aortale Ausdehnung … den unscharfen Mechanismus des Geistes meidend … Bewußtsein erlangen aus eigenem Antrieb … den Blutfluß steigernd und schnellfließend überlasteten Regionen zuführend … unmöglich, allein durch Instinkte Nahrung/Sicherheit/Freiheit zu erhalten … animalisches Bewußtsein dehnt sich nicht über gegebene Grenzen hinweg aus, noch tötet die Idee ihre Opfer … Das Tier zerstört und produziert nichts … Tierische Freuden bleiben empfindungsmäßig eintönig und vermeiden jegliche echte Wahrnehmung … Das Menschsein verlangt nach einer Hintertür, durch die man das Universum sehen kann … Das Bewußtsein ist deine Hintertür … Körperliche Integration ist nach dem Nerven/Blutfluß die tiefste Gewißheit zellarer Bedürfnisse … Alles/Zellen/Geschöpfe sind unbeständig … Streben nach innerer Permanenz … Weiter und weiter floß das Wissen durch Pauls Bewußtsein. Als das Morgengrauen die Gardinen seines Fensters mit gelbem Licht berührte, fühlte er dies durch die geschlossenen Lider. Er öffnete die Augen. Das altbekannte Hämmern und Hasten im Inneren der Burg nahm er ebenso wahr, wie die reichverzierte Decke seines Schlafgemachs.
Читать дальше