Als Paul seine Hand auf den Arm seiner Mutter legte, stellte er fest, daß sie zitterte.
»Es ist vorüber, Mutter«, sagte er.
Sie hob den Kopf nicht, sondern musterte ihn lediglich aus den Augenwinkeln. »Vorüber?«
»Natürlich. Gurney ist …«
»Gurney? Oh … ja.« Sie senkte den Blick.
Die Vorhänge raschelten, als Gurney, sein Baliset unter dem Arm, wieder eintrat. Er fing an, das Instrument zu stimmen ohne dabei ihren Blicken zu begegnen. Die Wandteppiche und Vorhänge dämpften die Echos, und Gurney stellte plötzlich betroffen fest, wie stark Jessica in den Jahren ihrer Trennung gealtert war. Die Entbehrungen und die Wasserknappheit, der sie in der Wüste unter den Fremen ausgesetzt war, hatten tiefe Falten in ihre Gesichtszüge gemeißelt.
Sie wirkt müde, dachte er. Wir müssen einen Weg finden, um sie wieder aufzurichten.
Er schlug einen Akkord an.
Paul sah Gurney an und sagte: »Ich habe … einige Dinge zu erledigen, die meine Anwesenheit erfordern. Wartet hier auf mich.«
Gurney nickte.
Er erweckte den Eindruck, als sei er nicht ganz bei der Sache, als reise sein Bewußtsein in diesem Moment nach Caladan zurück und zu seinen blauen Himmeln, an denen die Wolken vorbeizogen und auf baldigen Regen hindeuteten.
Paul mußte sich regelrecht zwingen, den Raum zu verlassen. Er bahnte sich einen Weg durch die schweren Außenvorhänge und trat in den Gang hinaus. Hinter ihm schlug Gurney erneut das Instrument an. Paul blieb stehen und lauschte einen Moment der Musik.
»Obstgärten und Weinberge,
Vollbusige Houris,
Ein schäumender Becher
Auf dem Tisch.
Was schwätze ich von Schlachten
Und Bergen, zerrieben zu Staub?
Warum fühle ich die Tränen?
Offen sind die Himmel
Und bieten ihren Reichtum an.
Meine Hände sind zufrieden,
Solange sie gesund und kräftig sind.
Warum denke ich an Aufmärsche
Und Gift in geschmiedetem Kelch?
Warum fühle ich die Tränen?
Die Arme der Geliebten locken
Und versprechen mir so viel
Wie das Paradies.
Warum erinnere ich mich der Narben,
Und träume von alten Schlachten …
Warum überschattet die Furcht meinen Schlaf?«
Aus einer der vor Paul liegenden Nebengänge tauchte ein mit einer Robe bekleideter Kurier auf. Die Kapuze des Mannes war zurückgezogen, und die Bänder, die von seinem Nacken herabbaumelten und zur Befestigung des Destillanzuges dienten, deuteten darauf hin, daß er gerade aus der offenen Wüste gekommen war.
Paul gab ihm mit einem Wink zu verstehen, daß er auf ihn warten sollte und beeilte sich, ihm entgegenzugehen.
Der Mann verbeugte sich und machte das Handzeichen, das an sich nur einer Ehrwürdigen Mutter oder einer Sayyadina zukam. Er sagte: »Die Führer der einzelnen Stamme beginnen sich bereits zu versammeln, Muad'dib.«
»Jetzt schon?«
»Diejenigen, die jetzt schon eingetroffen sind, kamen auf Stilgars Einladung, die er gab, bevor …« Der Kurier hob die Schultern.
»Verstehe.« Paul warf einen kurzen Blick zurück und erinnerte sich daran, daß das Stück, das Gurney jetzt spielte, zu denen gehörte, die seine Mutter am meisten mochte. »Stilgar und die anderen werden bald hier sein. Zeige ihnen, wo meine Mutter sie erwartet.«
»Ich werde hier warten, Muad'dib«, bestätigte der Kurier nickend.
»Ja … ja, tue das.«
Paul zwängte sich an dem Mann vorbei und strebte den Tiefen des Höhlensystems zu, um an einen Ort zu gelangen, den es in jeder Höhle gab und der in der Nähe des jeweiligen Wasserbeckens lag. Dort wurde ein kleinerer Wurm gefangengehalten, der nicht mehr als neun Meter lang war, weil die Wassergräben, die man um ihn herum gezogen hatte, sein Wachstum behinderten und außerdem dafür sorgten, daß er nicht ausbrach. Sobald der Wurm das Stadium des Kleinen Bringers überwunden hatte, mied er jegliche Ansammlungen von Wasser, weil sie für ihn das reinste Gift darstellten. Das Ertränken eines Bringers war das größte Geheimnis der Fremen, weil dadurch die Erzeugung des Wassers des Lebens zustande kam. Und dieses neue Gift konnte nur von einer Ehrwürdigen Mutter verändert werden.
Paul hatte die Entscheidung gefaßt, als er des Ausdrucks höchster Gefahr im Gesicht seiner Mutter teilhaftig geworden war. Nicht eine der Zukunftslinien hatte jemals eine Gefahr beinhaltet, die von Gurney Halleck ausgegangen wäre. Jene hinter einem grauen Nebel verborgene Zukunft hatte in ihm das Gefühl einer schattenhaften Bedrohung geweckt, über die er sich jetzt klar werden mußte.
Ich muß es herausfinden, dachte er.
Sein Körper hatte sich im Laufe der Zeit an immer größere Melangekonzentrationen gewöhnt — und dadurch waren seine Visionen seltsamerweise weniger geworden. Und undurchschaubarer. Erst jetzt war ihm klargeworden, was er zu tun hatte.
Ich werde den Bringer ertränken, dachte er. Dann werden wir sehen, ob der Kwisatz Haderach derjenige ist, der die ultimate Prüfung der Ehrwürdigen Mütter bestehen kann.
Und man hörte im dritten Jahr des Wüstenkrieges, daß Paul-Muad'dib allein unter den Kiswa-Schleiern in der Höhle der Vögel lag. Er lag da wie tot, im Banne der Flüssigkeit, die wir ›das Wasser des Lebens‹ nennen, während sein Geist die Grenzen sprengte, die das Universum uns auferlegt. Und also erfüllte sich die Prophezeiung, daß der Lisan al-Gaib fähig ist, gleichzeitig lebend und tot zu sein.
›Gesammelte Arrakis-Legenden‹, von Prinzessin Irulan.
Chani ging im Morgengrauen aus der Habbanya-Senke auf die Höhle der Vögel zu und vernahm das sich entfernende Rotorengesumme des Thopters, der sie bis dahin gebracht hatte und nun einem sicheren Versteck zustrebte, nur noch aus weiter Ferne. Die Männer der sie begleitenden Garde hielten einen gewissen Abstand zu ihr und beobachteten die Umgebung mit wachen Blicken. Sie erfüllten damit der Gefährtin Muad'dib, der Mutter seines erstgeborenen Sohnes, eine Bitte: sie wollte einen Moment mit ihren Gedanken allein sein.
Warum hat er mich zu sich rufen lassen? fragte sie sich. Zuvor hieß es doch, ich sollte mit Leto und Alia im Süden bleiben.
Sie zog die Robe enger um die Schultern und setzte ihren Fuß auf die ersten Ausläufer eines Pfades, den nur ein ausgebildeter Wüstenbewohner als solchen zu erkennen vermochte. Kleinere Steine knirschten unter ihren Füßen, aber Chani überschritt sie, ohne dadurch beim Gehen behindert zu werden.
Irgendwie fühlte sie sich plötzlich erheitert über die Tatsache, daß sie nun hier zwischen den Felsen herumkletterte, während zu allem entschlossene Männer sie umgaben und man sogar einen Thopter eingesetzt hatte, um sie aus dem Süden herbeizuholen. Es war eine nicht wiederzugebende Freude in ihr, wenn sie daran dachte, bald wieder mit Paul-Muad'dib beisammen zu sein, ihrem Usul. Auch wenn sein Name inzwischen zu einem Kampfruf der Fremen geworden war, blieb er für sie doch ihr Gefährte, der Vater ihres Kindes, ihr zärtlicher Liebhaber.
Aus den Felsen über ihr erschien eine Gestalt und gab mit einem Handzeichen zu verstehen, daß sie sich beeilen sollte. Chani beschleunigte den Rhythmus ihrer Schritte. Die ersten Vögel waren bereits erwacht und erhoben sich singend in den Morgenhimmel. Ein schmaler Lichtstreifen war am östlichen Horizont zu sehen.
Die Gestalt vor ihr gehörte nicht der Eskorte an. Ist es Otheym? fragte sie sich anhand einiger Bewegungen, die für ihn charakteristisch waren. Als sie ihn erreichte, erkannte sie, daß er es wirklich war. Der breite Unterführer der Fedaykin trug die Kapuze nach hinten geschlagen. Seine Nasenfilter waren nur nachlässig befestigt, wie er es immer tat, wenn er sich für einen kurzen Moment in der Wüste aufhielt.
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