Als sie durch den schmalen Gang von Pauls Privatquartier die Höhle betrat, verbarg sie schnell den Nachrichtenzylinder unter ihrer Robe. Nach der langen Reise vom Süden nach hier fühlte sie sich endlich wieder ausgeruht, auch wenn sie nicht verstehen konnte, weshalb Paul die Erlaubnis, die erbeuteten Ornithopter zu benutzen, verweigerte.
»Noch besitzen wir nicht die Kontrolle über den Luftraum«, hatte er gesagt. »Und wir müssen mit dem Brennstoff sparen, den wir von außerhalb beziehen. Wir müssen dafür sorgen, daß die Maschinen und der Treibstoff solange aufgespart werden, bis wir es uns leisten können, einen Maximaleinsatz zu fliegen.«
Paul stand mit einer Gruppe von Männern in der Nähe des Felsvorsprungs, der eine Art Bühne bildete. Im bleichen Licht der Leuchtgloben erschien ihr die Szenerie irgendwie unwirklich. Die ganze Höhle kam ihr vor wie ein Präsentierteller, auf dem sich eine aufgeregte Menge drängte, die mit den Füßen scharrte und flüsterte.
Sie musterte ihren Sohn und fragte sich, warum er ihr noch nicht die Überraschung, die er in der Hinterhand hatte, präsentierte: Gurney Halleck. Der Gedanke an Gurney weckte Erinnerungen an eine lange nicht mehr existierende Vergangenheit, an die Zeit der Liebe mit Pauls Vater.
Am anderen Ende der Bühne wartete Stilgar, umgeben von einer Gruppe seiner Freunde. Die Art, in der er ohne ein Wort zu sagen dastand, verlieh ihm eine Aura der Würde.
Wir dürfen diesen Mann nicht verlieren, dachte Jessica. Pauls Plan darf nicht schiefgehen. Alles andere würde eine entsetzliche Tragödie hervorrufen.
Sie betrat die Bühne, überquerte sie und ging an Stilgar vorbei, ohne ihn anzusehen. Von der Bühne aus betrat sie die Höhle, den Versammlungsraum, in dem die Menge bereitwillig Platz für sie machte. Stille umfing sie.
Jessica wußte, was dieses Schweigen bedeutete: unausgesprochene Fragen, aber auch der Respekt vor der Ehrwürdigen Mutter.
Als sie sich Paul näherte, zogen sich die ihn umstehenden jungen Männer zurück. Jessica war einen Moment bestürzt über die Ehrerbietung, die sie ihm erwiesen. ›Alle Menschen, die unter dir stehen, sind begierig, deine Position einzunehmen‹ , lautete eines der Axiome der Bene Gesserit. Aber in den Gesichtern der Umstehenden konnte von dieser Begierde nichts entdecken. Irgend etwas an der religiösen Aura, die Pauls Führerschaft umgab, hielt sie zurück. Und ihr fiel ein weiteres Sprichwort der Bene Gesserit ein: ›Es ist Brauch, daß Propheten unter Gewalteinwirkung sterben‹.
Paul schaute sie an.
»Es ist soweit«, sagte Jessica und reichte ihm den Nachrichtenzylinder.
Einer von Pauls Männern, er fiel durch seine Dicklichkeit auf, warf Stilgar einen Blick zu und sagte: »Wirst du ihn jetzt herausfordern, Muad'dib? Jetzt ist die richtige Zeit. Die Leute werden dich für einen Feigling halten, wenn du …«
»Wer wagt es, mich einen Feigling zu nennen?« verlangte Paul zu wissen. Seine Hand zuckte zum Griff des Crysmessers.
Die Fremen in seiner Nähe schwiegen betroffen und wichen zurück. Das Schweigen griff sofort auf die gesamte Menge über.
»Eine Menge Arbeit wartet auf uns«, sagte Paul, drehte sich um und bahnte sich mit der Schulter eine Gasse. Er erreichte die steinerne Bühne, schwang sich hinauf und wandte sich der Versammlung zu.
»Tu es!« schrie jemand.
Gemurmel kam auf.
Paul wartete, bis die Leute sich wieder beruhigt hatten, und das allgemeine Gemurmel in vereinzeltem Hüsteln endete. Dann hob er den Kopf, streckte das Kinn vor und sagte so laut, daß man es noch in der entferntesten Ecke hören konnte: »Ihr seid des Wartens müde.«
Erneut wartete er, bis die Erwiderungsrufe verstummt waren.
Und das sind sie wirklich, dachte er. Er hob den Nachrichtenzylinder, schüttelte ihn und dachte an das, was in ihm verborgen war. Man hatte ihn einem Kurier der Harkonnens abgenommen.
Und die Nachricht war klar: sie besagte, daß Rabban von nun an mit keiner Unterstützung von Giedi Primus mehr rechnen konnte. Von nun an mußte er mit seinen Problemen auf Arrakis allein fertigwerden.
Paul hob erneut seine Stimme: »Ihr seid der Meinung, daß es nun an der Zeit sei, Stilgar herauszufordern und einen Wechsel in der Führung der Truppen hervorzurufen!« Bevor die Menge darauf antworten konnte, schrie er wütend: »Haltet ihr den Lisan al-Gaib denn wirklich für so dumm?«
Die Menge schwieg. Sie wirkte wie gelähmt.
Er übernimmt jetzt den religiösen Mantel, dachte Jessica. Aber das darf er nicht tun!
»Es ist so Brauch!« schrie jemand.
Trocken erwiderte Paul: »Auch Bräuche ändern sich.«
Aus irgendeiner Ecke der Höhle brüllte jemand mit unverhohlenem Zorn: »Aber nicht ohne unsere Zustimmung!«
Mehrere begeisterte Zurufe zeigten Paul, daß noch mehrere Leute so dachten.
»Wie ihr wollt«, erwiderte er.
Und plötzlich stellte Jessica fest, daß er die Kraft der Stimme so einsetzte, wie sie es ihn gelehrt hatte.
»Ihr werdet es bestimmen«, sagte Paul. »Aber zuerst werdet ihr mir zuhören.«
Stilgar ging am Bühnenrand entlang. Sein bärtiges Gesicht wirkte ausdruckslos. »Auch das ist einer unserer Bräuche«, sagte er in die Menge hinein. »Es ist das Recht eines jeden Fremen, in der Versammlung seine Stimme zu erheben. Und Paul-Muad'dib ist einer der unseren.«
»Das Wichtigste ist der Nutzen des Stammes, nicht wahr?« fragte Paul, und Stilgar erwiderte mit flacher, aber dennoch würdiger Stimme:
»Das ist unser höchstes Ziel.«
»In Ordnung«, sagte Paul. »Dann laßt mich euch die Frage stellen, wer derjenige ist, der die Truppen unseres Stammes führt — und mithin auch die der anderen Stämme, da diese ihre Kampfkraft durch unsere Lehrer um ein Beträchtliches steigern konnten?«
Er wartete ab und ließ seinen Blick über die Köpfe der Anwesenden schweifen. Niemand antwortete ihm.
Und er fuhr fort: »Ist es Stilgar, der all dies beherrscht? Er selbst streitet dies ab. Bin ich es also? Aber auch Stilgar befolgt meine Vorschläge nur gelegentlich, auch wenn die Weisesten der Weisen mir ihr Ohr leihen und auf den Versammlungen meinen Worten lauschen.«
Immer noch herrschte Stille.
»Ist es also meine Mutter, die herrscht?« fragte Paul. Er deutete auf Jessica, die, gekleidet in eine schwarze Robe, noch immer zwischen den Menschen stand. »Stilgar und die anderen Truppenführer fragen sie vor jeder wichtigen Entscheidung um ihren Rat, das weiß ein jeder von euch. Aber geht eine Ehrwürdige Mutter über den Sand oder führt sie eine Razzia gegen die Harkonnens an?«
Diejenigen Leute, die Paul von seinem Standort aus sehen konnte, runzelten nachdenklich die Stirn. Einige murmelten aufgeregt.
Er läßt sich auf eine gefährliche Sache ein, dachte Jessica, aber gleichzeitig erinnerte sie sich an den Nachrichtenzylinder und die darin enthaltene Botschaft. Jetzt wurde ihr auch Pauls Absicht klar: er zielte darauf ab, die Fremen zu verunsichern und ihre bisherigen Maßstäbe ins Wanken zu bringen. Alles weitere würde sich dann von selbst ergeben.
»Ein Mann kann also keine Führungsrolle übernehmen, ehe er nicht einen anderen im Zweikampf besiegt hat, wie?« fragte Paul herausfordernd.
»Es ist so Brauch!« rief jemand aus der Menge.
»Und was ist unser Ziel?« fragte Paul. »Unser Ziel ist es, das Ungeheuer Rabban von seinem Thron zu stoßen und aus unserer Welt etwas zu machen, auf dem unsere Familien in Ruhe und Frieden leben können. Ist das unser Ziel oder nicht?«
»Harte Aufgaben erzwingen harte Methoden«, rief ihm ein anderer Fremen zu.
»Zerbrecht ihr eure Messer vor der Schlacht?« verlangte Paul zu wissen. »Ich sehe es als Tatsache an — nicht etwa als Prahlerei oder Herausforderung -, daß unter uns kein Mann ist, auch nicht Stilgar, der in der Lage wäre, mich in einem Zweikampf zu besiegen. Selbst Stilgar weiß das, und da er es weiß, wißt auch ihr es.«
Читать дальше