Bilder und Scanneraufzeichnungen von der SNLU-Lebensform hatte Conway schon oft eingehend betrachtet, aber dies war das erstemal, daß er Semlic außerhalb seines tiefgekühlten Lebenserhaltungsfahrzeugs gesehen hatte. Trotz der bewährten Brauchbarkeit von Conways eigenem isolierten Fahrzeug hielt der Diagnostiker einen gewissen Sicherheitsabstand ein.
„Ich komme auf Ihre kürzlich ausgesprochene Einladung hin“, sagte Conway zögernd, „und um dem Tollhaus da oben für eine Weile zu entfliehen. Ich habe nicht die Absicht, einen Ihrer Patienten zu untersuchen.“
„Ach, Conway, Sie sind das da in dem Ding!“ Semlic kam ein ganz kleines Stückchen näher. „Meine Patienten werden über Ihr mangelndes Interesse äußerst erleichtert sein. Der Backofen, in dem Sie unbedingt sitzen müssen, macht sie nämlich nervös. Aber wenn Sie rechts neben der Zuschauergalerie parken, genau dort, können Sie alles sehen und hören, was passiert. Sind Sie schon mal hiergewesen?“
„Zweimal“, antwortete Conway. „Beide Male ausschließlich, um meine Neugier zu befriedigen und um die Ruhe und den Frieden zu genießen.“
Semlic gab einen Laut von sich, der nicht übersetzt wurde, und entgegnete dann: „Ruhe und Frieden sind relativ, Conway. Damit Ihr Translator meine Stimme laut genug empfängt, um sie verarbeiten zu können, müssen Sie die Eingangsempfndlichkeit Ihres Außenmikrophons ein ganzes Stück erhöhen, und dabei spreche ich für einen SNLU schon laut. Einem Wesen wie Ihnen, das fast taub ist, kommt es hier bloß ruhig vor. Ich hoffe, daß Ihnen die Umgebung, so lebhaft und laut sie für mich ist, zu der Stille und dem Frieden verhilft, die Ihr Kopf so dringend braucht.
Und vergessen Sie nicht“, fügte Semlic hinzu, während er sich entfernte, „drehen Sie die Geräuschempfndlichkeit hoch, und schalten Sie den Translator ab.“
„Danke“, erwiderte Conway. Für einen Moment erfüllte ihn die wie Edelsteine glitzernde seesternförmige Gestalt des Diagnostikers fast mit kindlichem Staunen, so daß sich seine Augen durch eine plötzliche Gefühlswelle trübten und den Verwischungseffekt des Methannebels auf der Station verstärkten. „Sie sind ein freundliches, verständnisvolles und sehr warmherziges Wesen“, fügte er hinzu.
Semlic stieß einen weiteren unübersetzbaren Laut aus und entgegnete: „Ich sehe keinen Grund, weshalb Sie plötzlich beleidigend werden.“
Lange Zeit sah Conway dem Treiben auf der belebten Station zu. Wie er feststellte, trugen einige von den unter niedrigen Temperaturen lebenden Schwestern, die die Patienten pflegten, leichte Schutzanzüge, was darauf hindeutete, daß sie eine etwas andere Atmosphäre als die allgemein auf der Station herrschende benötigten. Er sah, wie sie an ihren Schützlingen Arbeiten verrichteten und für sie Dinge taten, die überhaupt keinen Sinn ergaben, sofern er sich nicht ein SNLU-Band im Kopf speichern ließ. Zudem arbeiteten die Schwestern mit der fast absoluten Lautlosigkeit von Wesen mit einer Überempfndlichkeit gegen akustische Schwingungen, und zunächst war nichts zu hören. Doch je mehr er sich konzentrierte, desto deutlicher wurde er sich der auftretenden zarten Schallformen bewußt, einer Art fremder Musik, die kalt und rein war und nichts ähnelte, was er bisher gehört hatte. Schließlich konnte er sogar einzelne Stimmen und Wortwechsel unterscheiden, die sich wie das kühle, leidenschaftslose, zarte und unaussprechlich süße Klingen von sich berührenden Schneeflocken anhörten. Nach und nach ergriffen der Frieden und die Schönheit und die tiefe Fremdartigkeit des Ganzen ihn und die anderen Teile seines Verstands und lösten mit sanfter Gewalt all den Stress und die Konflikte und die geistige Verwirrung auf.
Selbst Khone, bei der Xenophobie ein dringendes Erfordernis der Evolution war, konnte in dieser Umgebung nichts Bedrohliches entdecken und fand ebenfalls die Stille und den Frieden, die es dem Verstand ermöglichen, sich entweder gedankenlos treiben zu lassen oder scharf, ruhig und ohne Sorgen nachzudenken.
Das heißt, bis auf die kleine, quälende Sorge darüber, daß er hier jetzt schon mehrere Stunden saß, während wichtige Arbeit auf ihn wartete. Außerdem waren beinahe zehn Stunden vergangen, seit er etwas gegessen hatte.
Die Kälteebene hatte ihren Zweck sehr gut erfüllt, da sie Conway in jeder Beziehung abgekühlt hatte. Er blickte sich nach Semlic um, aber der Diagnostiker war auf einer Nebenstation verschwunden. Dann schaltete er den Translator ein, um zwei Patienten in der Nähe zu bitten, dem Diagnostiker seinen Dank auszurichten, änderte aber rasch seine Meinung, als er die beiden miteinander reden hörte.
Die zarten, klingelnden und klirrenden Stimmen der beiden SNLU-Patienten wurden vom Translator folgendermaßen übersetzt: „…nichts als eine winselnde, hypochondrische Memme! Wenn er nicht ein so freundliches Wesen wäre, würde er Ihnen das sagen und Sie wahrscheinlich aus dem Hospital werfen. Und die schamlose Art, in der Sie versuchen, seine Zuneigung zu gewinnen, grenzt an Verführung.“ Und die Antwort darauf lautete: „Dafür haben Sie niemanden, den Sie verführen könnten, Sie eifersüchtiges altes Miststück! Sie fallen doch schon auseinander. Aber trotzdem weiß er, wer von uns beiden wirklich krank ist, auch wenn ich das zu verbergen versuche.“
Als er die Station verließ, machte sich Conway in Gedanken die Notiz, O'Mara zu fragen, was eigentlich die unter extremer Kälte lebenden SNLUs unternahmen, um emotional erhitzte Gemüter abzukühlen. Und was das anging, was konnte er selbst tun, um den ständig schwangeren Beschützer des Ungeborenen zu beruhigen, dem er einen Besuch abstatten wollte, sobald er etwas zu essen hatte? Allerdings hatte er das bestimmte Gefühl, daß die Antwort in beiden Fällen gleich lautete — nämlich gar nichts.
Nachdem er in die normale Wärme und Helligkeit des Korridors zwischen den Ebenen zurückgekehrt war, dachte er nicht mehr länger darüber nach.
Die Entfernung zwischen seinem gegenwärtigen Standort und der Ebene, auf der sich der Beschützer befand, war etwa die gleiche wie die zur Hauptkantine, die in entgegengesetzter Richtung lag. Folglich hatte er den doppelten Weg vor sich, egal, wohin er zuerst ging. Aber seine eigene Unterkunft lag zwischen ihm und dem Beschützer, und Murchison hatte immer gerne ein paar Lebensmittel vorrätig — eine Gewohnheit aus ihrer Zeit als Schwester —, falls sie durch einen plötzlichen Notfall oder aufgrund purer Erschöpfung vom Besuch der Kantine abgehalten wurde. Zwar handelte es dabei nicht gerade um sonderlich abwechslungsreiche Kost, aber er wollte ja auch nur neuen Brennstoff aufnehmen.
Zudem gab es noch einen weiteren Grund, nicht in die Kantine zu gehen. Obwohl ihm seine Glieder nicht mehr ganz so fremd vorkamen, die Wesen, die ihm auf dem Korridor begegneten, nicht mehr annähernd so beunruhigend waren wie vor seinem Besuch auf Semlics Station und sich Conway als Herr über seine Alter egos fühlte, war er sich nicht sicher, ob all das so bleiben würde, wenn er sich der Nähe von Essensmassen aussetzte, die seine Gehirnpartner womöglich als ekelerregend empfanden.
Es würde nicht gut aussehen, wenn er Semlic schon so bald einen weiteren Besuch abstatten mußte. Er glaubte zwar nicht, daß der schwache und vor allem kalte Trost, den er empfangen hatte, zur Gewohnheit werden könnte, doch traf dafür höchstwahrscheinlich das Gesetz der immer selteneren Wiederkehr zu.
Als er in der Unterkunft eintraf, war Murchison bereits angezogen und genaugenommen wach, befand sich jedoch in einem völlig erschöpften Zustand und wollte schon wieder zur Arbeit gehen. Wie sie beide wußten, sich aber gegenseitig sorgfältig verschwiegen, hatte O'Mara ihre arbeitsfreien Zeiten so gelegt, daß diese so selten wie möglich zusammenfielen — nach Auffassung des Chefpsychologen sei es manchmal besser, die Lösung eines Problems hinauszuzögern, als durch die Bemühung, es zu früh aus der Welt zu schaffen, unnötigen Kummer zu bereiten. Murchison gähnte Conway an und wollte von ihm wissen, was er gemacht habe und was er, abgesehen vom Schlafen, als nächstes zu tun gedenke.
Читать дальше