James White - Herr der Roboter

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James White

Herr der Roboter

1.

Ross kam nur sehr langsam zu sich. Sein Erwachen war ein allmähliches Auftauen, das stufenweise vor sich ging und lange Zeit brauchte, um bis zum Hirn vorzudringen.

Er versuchte sich jedenfalls einzureden, daß alles nur ein Traum war. Doch sein Verstand gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden, er war hellwach. Unter normalen Umständen wäre Ross der kalte Angstschweiß ausgebrochen. Schließlich kehrten auch Hör- und Sichtvermögen wieder; der eiskalte Nebel eines totenähnlichen Schlafes verflüchtigte sich, und Ross erkannte die Beethovenbüste.

Jemand hatte Beethovens Haare mit einer schwarzen Glasur überzogen, das Gesicht mit einer naturgetreuen Fleischfarbe bestrichen und den Augen einen bläulichen Farbton verliehen. Aber es war noch immer die gleiche Büste, die einen Ehrenplatz in Pellews Konsultationszimmer hatte. Also befand sich Ross noch immer im gleichen Raum. Sicher konnte ihm Doktor Pellew alles erklären, denn er war nicht der Mann, der grobe Spaße auf Lager hatte. Dieser Gedanke beruhigte Ross. Zweifellos gab es hier in der einunddreißigsten Ebene ein paar Witzbolde — doch warum dieser alles andere als angenehme Zauber? Und warum versuchten sie es ausgerechnet mit ihm? Wer waren sie eigentlich, wo befand er sich, was tat er hier und wer war Pellew?

Ross wußte es nicht genau. Er konnte sich wieder bewegen, doch sein Gedächtnis wies noch immer große Lücken auf. Er seufzte hörbar — und plötzlich begann Beethoven zu sprechen:

„Wenn das Bewußtsein des Patienten zurückgekehrt ist“, sagte er mit einer trockenen, belehrenden Stimme, die an Doktor Pellew erinnerte, „so hat er jede heftige Bewegung zu vermeiden, da sie einen Muskelriß verursachen könnte. Er — oder sie — hat diesen Hinweis strikt zu befolgen. Weiter soll der Patient sich immer wieder einprägen, daß er geheilt ist, geheilt ist, geheilt ist…“

Wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat, wurden die letzten zwei Worte monoton wiederholt.

Ross hörte ungefähr sechs Minuten zu und krächzte: „Seien Sie endlich still! Ich glaube es!“ Beethoven schwieg.

Ross spürte an Hinterkopf, Nacken und Schultern einen sanften Druck. Er stellte fest, daß sich seine Lage veränderte und glaubte, seine Knochen krachen zu hören. Das Polster, auf dem er lag, knickte in der Mitte ein und verwandelte sich in einen Lehnstuhl, eine Prozedur, die sich im Zeitlupentempo vollzog. Trotzdem hätte Ross vor Schmerzen am liebsten laut geschrien; aber er wagte nicht einmal, seine Lungen allzusehr mit Luft zu füllen, denn das hätte nur zusätzliche Schmerzen verursacht.

Endlich saß er aufrecht. Ohne den Haltegurt wäre er wie ein Taschenmesser zusammengeknickt. Er konnte diesen Gurt nur fühlen, denn selbst die Augenmuskeln gehorchten ihm nur für kurze Zeit.

Und wieder die Stimme:

„Bei langfristigen Patienten werden gewisse psychologische Störungen auftreten. Sie erwachen in einem Zustand, der ihnen fremd ist und möglicherweise Furcht einflößen wird. Darum ist alles so hergerichtet, daß der Patient Ablenkung hat und den Schock auf diese Weise überwindet…“

Ross blinzelte solange, bis der schwarze Schleier vor seinen Augen leidlich verschwand. Er war in einem kleinen Raum, der außer dem Liegestuhl ein Bett und Wandregale enthielt. Der Fußboden war mit einer Schaumgummimasse ausgelegt. In Reichweite befand sich ein fahrbarer Instrumententisch, auf dem die sprechende Beethovenbüste stand und drei glänzende Konservenbüchsen. Da war auch seine geöffnete Brieftasche, die ein Bild von Alice zeigte.

„… hat der Patient Nahrung zu sich zu nehmen und, sobald es sein Zustand erlaubt, die Muskeln zu massieren. Er bevorzugt leicht verdauliche Speisen, leicht verdauliche Speisen, leicht verdauliche…“

„Um Himmels willen!“ stöhnte Ross und streckte seine Hand vorsichtig nach einer der Büchsen aus. Das, dachte er, ist der blödsinnigste Witz, den ich je erlebt habe. Er fühlte sich nicht hungrig, aber er tat, was ihm die Büste befahl. Es war wohl auch die einzige Möglichkeit, ihre monotone und sture Stimme zum Schweigen zu bringen.

Der Inhalt der Büchse war angewärmt und der Deckel bereits geöffnet. Sie schwappte über, und Ross bekam ein paar Spritzer auf die nackten Beine. Er fluchte und schnupperte. Es roch appetitlich und schmeckte auch genauso gut, wie Ross feststellte. Eine kräftige Brühe, die seinen Körper angenehm erwärmte. Kaum hatte er die Büchse geleert, ließ die Beethovenbüste wieder ihre leiernde Stimme vernehmen:

„Leicht verdauliche Speisen, leicht verdauliche Speisen…“

Offenbar erwartete man von ihm, daß er alle drei Büchsen leeren sollte.

Der Inhalt der zweiten Büchse schwappte ihm mitten ins Gesicht.

Seltsame Dinge geschahen plötzlich. Er zuckte zurück, als die heiße, faulriechende Flüssigkeit Gesicht und Brust benetzte. Durch den jähen Ruck riß der Gurt, und Ross rutschte wie auf einer schrägen Ebene zu Boden.

Nie hatte Ross geglaubt, daß ein Sturz aus nur drei Fuß Höhe und auf eine weiche Unterlage derartige Schmerzen verursachen könne.

Nein, es konnte sich nur um einen grausamen Scherz handeln. Von seinem neuen Standort aus sah Ross am Hinterkopf der Beethovenbüste einen Lautsprecher, dessen Kabel quer über den Fußboden und durch ein Loch in der Wand nach außen führte. Ja, das konnte nur ein Scherz sein, den sich seine Studienkollegen mit ihm geleistet hatten — einschließlich einer Flüssigkeit, wie man sie bei der Herstellung von Stinkbomben verwendet, einer sprechenden Beethovenbüste und einer Tonbandaufnahme von Doktor Pellews Vorlesungen. Nur eins machte Ross stutzig. Das Tonband hatte ihm eingeredet, daß er,geheilt’ sei — und mit diesem Wort wurde im Hospital kein Schindluder getrieben.

Aber wenn es sich um keinen Scherz handelte — was war es dann?

2.

Der Atomkrieg war schon lange vorbei, als Ross geboren wurde. Die atomare Katastrophe hatte ihren Anfang genommen, als eine Frühwarnanlage ein falsches Messungsresultat verzeichnete und dadurch eine Kettenreaktion von vernichtenden Abwehrwaffen auslöste. Der Funkverkehr war gestört, so entdeckte man die Ursache des versehentlich ausgelösten Wahnsinns erst drei Wochen später. Noch weitere drei Wochen, und die Welt wäre total entvölkert gewesen. Alle beteiligten Mächte entschieden sich für eine sofortige Beendigung des Konflikts. Von zehn Menschen überlebte jeweils nur einer das Grauen. Doch die Überlebenden resignierten nicht. Infolge des Menschenmangels erlebte die Technik einen bisher nicht annähernd für möglich gehaltenen Aufschwung, und die kühnsten utopischen Träume wurden Wirklichkeit. Allerdings wurden kaum noch Hochhäuser gebaut, sondern tiefstöckige Wohnbunker, obwohl mit einem zweiten Atomkrieg wohl kaum zu rechnen war. Aber man war dennoch vorsichtig.

Wie alle Leute, so hatte auch Ross für diesen Krieg nur sarkastische Bemerkungen übrig. Er hatte nie eine überbevölkerte Erde gekannt und war eher froh, nicht in jenem Zeitabschnitt geboren worden zu sein. Und man lebte heute nicht schlecht und arbeitete nur drei Von täglich vierundzwanzig Stunden.

Doch als Ross etwa vierzehn Jahre alt war, stellten die Wissenschaftler fest, daß die Nachwirkungen des Atomkrieges noch nicht überwunden waren. Die Kopfzahl der männlichen und weiblichen Bevölkerungsschicht ging ständig zurück; es gab weit mehr Sterbefälle als Geburten. Gelang es nicht, diese bedrohliche Entwicklung zu stoppen, so lag das Ende der Menschheit in greifbarer Nähe.

Ein Menschenleben war plötzlich ein kostbares Kleinod, dessen Preis sich im Laufe der Zeit noch erhöhen mußte. Um die Menschheit vor dem Aussterben zu retten, scheute man weder Mühe noch Kosten. Niemand war so hoffnungslos krank, als daß man nicht bis zu seinem letzten Atemzug versucht hätte, ihn doch noch zu retten. Wo noch Leben war, da gab es auch noch Hoffnung. Versagten alle Mittel, so versetzte man den Patienten in Tiefschlaf, um auf diese Weise ein zu rasches Fortschreiten der Krankheit zu unterbinden. Solange die Patienten lebten, konnte immer noch ein Medikament entdeckt werden, das ihre Rettung bedeutete.

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