„Und — Sie haben diese Kugel?“
„Jawohl. Wollen Sie sie sehen?“
Der Zuhörer sprang auf. Der Professor ließ ihm an der Tür den Vortritt, kehrte noch einmal zurück, um den Schlüssel vom Schreibtisch zu holen, und folgte seinem Gast eilig in den dunklen Flur. Sie betraten eine enge, fensterlose Kammer. Sie war leer, nur in einer Ecke stand ein großer Panzerschrank alten Modells. Bläulich spiegelte sich in seinen Platten das schwache Licht einer unverhüllt von der Decke hängenden Glühbirne. Mit sicherer Hand stieß der Professor den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn herum. Knirschend fuhren die Riegel zurück, die schwere Tür ging auf. Der Professor trat zur Seite. Der Schrank war leer.
Die Kajüten der Physiker lagen im vierten Geschoß. Er fand sich inzwischen auf der EURYDIKE zurecht, denn er hatte den Plan des gesamten Raumschiffs studiert, das sich so sehr von denen unterschied, die er geflogen hatte. Er verstand viele Namen nicht, ebensowenig wie die Bestimmung der sonderbaren Anlagen im Hecksegment, das unbemannt und vom übrigen Rumpf dreifach abgeschottet war. Der raupenförmige Koloß war kreuz und quer von Verbindungstunneln durchzogen, einem wahrhaftigen unterirdischen Netz dieser walzengleich gestreckten Stadt. Seine Muskeln speicherten noch die Erinnerung an die Fortbewegung in engen Gängen, die im Querschnitt oval oder rund wie Brunnenschächte waren. Man schwebte dort in der Schwerelosigkeit und half sich hin und wieder durch einen leichten Stoß, um Ecken und Kehren richtig zu nehmen. In den Transportern war man noch einfacher in die Laderäume gelangt, man brauchte nur den Kompressor einzuschalten, um im Pfeifen eines beinahe echten Windes dahinzusausen, die Beine m der Luft, als seien sie unnütze Rudimente, mit denen niemand etwas anzufangen wußte. Fast dauerte ihn nun die Schwerelosigkeit, die er einst bei so mancher Reparatur verflucht hatte, weil die Newtonschen Gesetze sich bemerkbar machten: Wenn man sich nicht ordentlich festhielt, genügte ein Hammerschlag, einen auf der Resultante fortzukatapultieren, wobei man Purzelbäume schlug, die nur den anderen Spaß machten.
Die Lifts hier waren eiförmige Kabinen ohne Räder und mit so gewölbten Fenstern, daß man darin sein wie durch Krämpfe verzerrtes Spiegelbild sah. Sie bewegten sich geräuschlos, gaben die Zahl der passierten Sektoren an und blinkten am gewünschten Halteort.
Der Korridor hatte einen Fußbodenbelag, der rauh und flauschig zugleich war. Um eine Ecke verschwand — einer gehörnten Schildkröte gleichend — gerade ein Staubsauger. Der Besucher ging eine Reihe von Türen entlang, die wie die Wand leicht konvex waren. Sie hatten hohe kupferbeschlagene Schwellen, für deren Vorhandensein kein anderer Grund denkbar war, als daß sie einem Innenarchitekten sehr gefallen haben mußten.
Vor Laugers Kajüte blieb er stehen. Alle Selbstsicherheit war auf einmal verflogen. Er war immer noch nicht imstande, sich der Besatzung zugehörig zu fühlen. Die Freundlichkeit in der Messe, der Eifer, mit dem ihn bald die einen, bald die anderen an ihren Tisch baten — all das erschien ihm übertrieben. Sie schienen nur so zu tun, als wäre er einer von ihnen und als habe man ihm vorläufig nur noch keine Funktion zugewiesen. Zwar war er mit Lauger ins Gespräch gekommen, der ihm versichert hatte, er könne ihn jederzeit aufsuchen, aber auch das schreckte ihn eher ab, als daß es ihm Vertrauen einflößte.
Schließlich war Lauger nicht irgendwer, sondern der Leitende Physiker, und das nicht nur auf der EURYDIKE.
Er hätte nie geglaubt, daß ihn Zweifel darüber befallen könnten, wie er sich gegen einen anderen zu benehmen hatte — über das Savoir-vivre, ein Wort, das hier einen Beigeschmack hatte wie ein „Flirt“ in den Verliesen einer Pyramide.
Die Tür besaß keine Klinke, man brauchte sie nur mit den Fingerspitzen zu berühren. Sie flog so schnell auf, daß er zurückfuhr wie ein Wilder vor einem Auto. Der geräumige Innenraum überraschte ihn durch seine Unordnung. Zwischen Bergen von Bändern, Platten, Papieren und Atlanten erhob sich ein großer Schreibtisch, dessen Platte sich zu einem Halbkreis rundete. In diesem wiederum stand ein Drehstuhl, an der Wand dahinter befand sich ein schwarzes Rechteck, über das Lichtpünktchen wimmelten.
Zu beiden Seiten dieser funkenschwirrenden Tafel hingen unter Tiefstrahlern große Fotos von Spiralnebeln, weiter hinten bauchten sich vertikale, säulenförmige Zylinder, die teilweise offenstanden und Fächer sehen ließen, voll von den Discs der Prozessoren. In der linken Ecke ballte sich die Masse eines schrägen, vierkantigen Apparats, unter dem ein Stühlchen befestigt war. Die Mündung des Geräts ragte in die Decke, und aus einem Spalt unter Binokularen kam mit kleinen Sprüngen ein Band, das ein Diagramm zeigte und sich bereits in Schleifen auf dem Boden ringelte, auf einem alten Perserteppich mit ausgeblichenem Hieroglyphenmuster. Dieser Teppich verwirrte den Besucher vollends. Einer der säulenförmigen Zylinder verschwand und machte den Weg in einen Nebenraum frei. In der Öffnung erschien Lauger, in Leinenhosen und Pullover, das Haar schon ewig nicht mehr geschnitten. Er lächelte dem Gast verständnisinnig und unschuldig entgegen. Sein Gesicht war fleischig, er sah aus wie ein vorzeitig gealtertes Kind und glich einem Schöpfer höchster Abstraktionen ebensowenig wie Einstein, als er noch im Patentamt gearbeitet hatte. „Guten Tag…“, sagte der Ankömmling. „Treten Sie ein, Kollege, Sie treffen es gut: Sie bekommen es hier auf einen Schlag mit der Physik und der Metaphysik zu tun…“ Erläuternd setzte er hinzu: „Pater Arago ist bei mir.“
Lauger ging voran in eine andere, kleinere Kajüte mit verdeckter Koje und einigen kleinen Sesseln um den Tisch, auf dem der Dominikaner mit der Lupe irgendwelche Pläne prüfte, möglicherweise eine computergefertigte Planetenkarte, denn man sah darauf Breitenkreise. Arago zog den Sessel an seiner Seite hervor, sie nahmen Platz. „Das ist Mark“, sagte Lauger zu dem Pater. „Kennen Sie ihn?“
Ohne den Gefragten zu Wort kommen zu lassen, fuhr er fort: „Ich errate Ihren Kummer, Mark. Mit dem Geist in einer Maschine kommt man schwer auf einen Nenner.“
„Die Maschine hat keine Schuld“, merkte der Dominikaner an. In seiner Stimme lag unüberhörbare Ironie. „Sie schwätzt, was man ihr eingegeben hat.“
„Das soll heißen: Was ihr eingegeben habt!“ verbesserte ihn der aufsässig lächelnde Physiker. „Es gibt keine Übereinstimmung in den Theorien, es hat sie nie gegeben.“ Für den neuen Gast fügte er eine Erklärung hinzu: „Es geht um das Schicksal der Zivilisationen oberhalb des Fensters. Da Sie nun schon einmal in unseren Streit hineingeplatzt sind, will ich den Beginn zusammenfassen. Sie wissen bereits, daß sich die alten Begriffe über CETI inzwischen gewandelt haben. Selbst wenn es in der Galaxis eine Million Zivilisationen gäbe, wäre ihre Dauer zeitlich so gestreut, daß man sich mit den Herren eines Planeten nicht erst einmal verständigen kann, um sie nachher zu besuchen. Die Zivilisationen sind schwerer zu erwischen als Eintagsfliegen. Darum suchen wir nicht den fertigen Schmetterling, sondern nur seine Puppe. Wissen Sie, was das „Fenster des Kontakts“ ist?“
„Ja.“
„Nun sehen Sie! Nachdem wir zweihundert Millionen Sterne durchgesiebt haben, sind wir auf elf Millionen Kandidaten gekommen. Die Mehrzahl hat entweder tote Planeten, oder aber sie sind außerhalb des Fensters, darüber oder darunter.
Stell dir“, ging er unverhofft zum Du über, „bloß mal vor, du verliebst dich in das Bild eines sechzehnjährigen Mädchens und machst dich auf, sie zu bekommen.
Leider muß die Reise aber fünfzig Jahre dauern. Du wirst also vor einer alten Frau oder an einem Grab stehen. Schickst du deine Liebeserklärung aber mit der Post, so wirst du selber alt, ehe du die erste Antwort bekommst. Das ist in nuce die ursprüngliche Konzeption von CETI. Man kann in mehrhundertjährigen Intervallen kein Gespräch führen.“
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