Befinden sich auf den einzelnen Abschnitten dieses Strahlenumlaufs Beobachter, so können sie ihre Uhren oberhalb der von Einstein entdeckten Barriere synchronisieren. Sie müssen nur die Entfernung der Seiten des Dreiecks „Pulsar — Beobachter A — Beobachter B“ und die Drehgeschwindigkeit des Pulsars, dieses spezifischen „Leuchtturms“, kennen.
Soviel erfuhr der Wiedererweckte auf der EURYDIKE in dem Jahr ihrer unablässigen Beschleunigung über die kosmischen Zivilisationen. Er gelangte an eine Barriere, die er nicht zu bewältigen vermochte. Der maschinelle Lehrer zeigte kein Mißvergnügen mit dem Schüler, der zuwenig befähigt war, in die Geheimnisse der siderischen Energetik sowie ihrer Zusammenhänge mit Gravitationstechnik und — Ballistik einzudringen. Diese Früchte der neuesten Entdeckungen lagen der Expedition zum Sternbild der Harpyie zugrunde, auf das früheren Astronomen die Sicht verdeckt worden war durch eine Wolke, den sogenannten Kohlensack. Die EURYDIKE sollte ihn umfliegen, den „temporären Hafen“ eines Kolapsars anlaufen, der auf den Namen Hades getauft worden war, eines ihrer Segmente zu dem Planeten Quinta der Zeta Harpyiae entsenden, die Rückkehr dieses Kundschafters abwarten und zwecks ihres eigenen Rückflugs ein rätselhaftes Manöver ausführen, das die Bezeichnung „Passage durch den retrochronalen Toroid“ trug und das Raumschiff nach knapp acht Jahren zurück in Sonnennähe brachte. Ohne diese Passage wäre es erst nach zweitausend Jahren und eigentlich gar nicht zurückgekehrt.
Das Erkundungsschiff der EURYDIKE sollte ein ganzes Parsek selbständig zurücklegen, die Besatzung sich im Zustand der Embryonation befinden. Die Variante, die Männer zu vitrifizieren, war verworfen worden, da sie eine Wiederbelebung der Eingefrorenen nur zu achtundneunzig Prozent garantierte. Der Pilot vorsintflutlicher Raketen kam sich bei diesen Vorträgen vor wie ein Kind, das in die Funktionen eines Synchrophasotrons eingeführt wird. Entweder waren die Fähigkeiten des Memnors unzureichend — oder aber die seinen. Auch fand er, er sei eigenbrötlerisch geworden und dürfe nicht länger den Robinson an der Seite seines elektronischen Freitags spielen. Er fuhr zu dem im Bugsegment der EURYDIKE untergebrachten Observatorium, um wieder einmal die Sterne zu sehen.
Die Halle gleißte von unbegreiflichen Apparaten, vergebens suchte man die geschützähnliche Anlage des Reflektors, das Teleskop vertrauter Konstruktion oder selbst die Kuppel mit der Öffnung zur visuellen Himmelsbeobachtung. Der hohe Raum schien menschenleer, war aber von Lampengirlanden erhellt, die sich an schmalen, durch die Säulen der Geräte verbundenen Galerien rings um die Wände zogen.
Als er von diesem mißlungenen Ausflug in seine Kajüte zurückkam, bemerkte er auf dem Tisch ein altes, zerlesenes Buch mit einem Zettel von Gerbert, der ihm diese Schlaflektüre geliehen hatte. Der Arzt war bekannt dafür, daß er eine Menge Bücher phantastischen Inhalts an Bord geschleppt hatte, die er auch dem berauschendsten holovisuellen Spektakel vorzog.
Der Anblick des Buches bereitete dem Beschenkten Rührung. So lange war er nun wieder unter den Sternen, so lange hatte er sie nicht gesehen, und was noch schlimmer war, er verstand den Menschen nicht näherzukommen, die ihm die neue Reise gestiftet hatten — zusammen mit einem neuen Leben. Seine Kajüte hatte man ihm eingerichtet, wie er es gewünscht hatte: halb wie auf einem Hochseeschiff, halb wie den Wohnraum von Steuermann oder Navigator in einer alten Transportrakete, ganz anders als eine Passagierkabine also, denn das war nicht der Ort eines zeitweiligen Aufenthalts wie im Hotel, sondern ein Zuhause. Er hatte sogar zwei Kojen übereinander. Auf der oberen legte er gewöhnlich die Kleidung ab, wenn er sich auszog. Jetzt knipste er am Kopfende der unteren die Lampe an, zog die Decke über die Beine und schlug — mit dem Gedanken, nun sündige er wieder durch Untätigkeit und Faulheit, aber vielleicht schon zum letztenmal — das Buch an der Stelle auf, die Gerbert mit einem Zeichen versehen hatte. Er las eine Weile, ohne auch nur die Bedeutung der Wörter wahrzunehmen — so wirkte auf ihn der simple schwarze Druck. Die Art der Buchstaben, das vergilbte, abgegriffene Papier, die echten Nähte des Buchbinders, die Wölbung des Rückens, all das hatte für ihn etwas unglaublich Eigenes, Einzigartiges, Verlorenes und Wiedergefundenes, und dabei war er wahrhaftig nie ein Bücherwurm gewesen. Jetzt aber fand er im Lesen etwas Feierliches, als habe ihm der tote Autor einst ein Versprechen gemacht, das so vielen Hindernissen zum Trotz nun in Erfüllung gegangen war. Er hatte eine sonderbare Angewohnheit: Er schlug das Buch aufs Geratewohl auf und begann zu lesen. Den Verfassern wäre das wohl nicht sehr recht gewesen. Er wußte selber nicht, warum er es tat. Vielleicht wollte er die ersonnene Welt nicht durch eine fertige Tür betreten, sondern gleich mitten hineingelangen. Auch jetzt machte er es nicht anders.
… „Soll ich es Ihnen erzählen?“ Der Professor kreuzte die Arme über der Brust.
„Mit dem Schiff in den Hafen von Born“, begann er, ließ sich auf einen Stuhl sinken und kniff die Augen zu. „Mit einem Raddampfer den Fluß hinauf nach Bangal. Dort fängt der Dschungel an. Sechs Wochen beritten, länger geht es nicht. Selbst Maultiere halten nicht durch. Die Schlafkrankheit… Es gab dort einen alten Schamanen namens Nfo Tuabe.“ Er sprach das Wort französisch aus, mit der Betonung auf der letzten Silbe. „Ich war gekommen, um Schmetterlinge zu fangen. Er aber wies mir den Weg…“ Er hielt inne und schlug die Augen auf.
„Wissen Sie, was Dschungel ist? Woher sollten Sie es wissen! Grünes, tobsüchtiges Leben. Alles ist in Bewegung, wachsam, schwirrend. Im Dickicht ein Gedränge gieriger Geschöpfe, irrsinnige Blüten wie Explosionen von Farben.
Insekten, verborgen in klebrigen Spinnweben — Tausende, Tausende nicht klassifizierter Arten. Ganz anders als bei uns in Europa. Man braucht nicht mal zu suchen, die Falter setzen sich nachts in Schwärmen auf das Zelt, sie sind groß wie eine Hand, aufdringlich und blind. Zu Hunderten kommen sie im Lagerfeuer um. Schatten huschen über die Leinwand. Die Neger zittern, der Wind trägt von allen Seiten dumpfes Grollen herbei. Löwen, Schakale… Ja, aber das hat nichts zu sagen. Nachher kommen Schwäche und Fieber. Nachdem man die Pferde aufgegeben hat, geht man zu Fuß weiter. Ich führte Serum, Chinin, Germanin bei mir, alles, was Sie wollen. Eines Tages endlich — es gibt keine Zeitrechnung mehr, man merkt die ganze Lächerlichkeit und Künstlichkeit von Wocheneinteilungen und Kalendern — eines Tages geht es nicht mehr weiter. Der Dschungel ist zu Ende. Nur noch ein kleines Negerdorf, direkt am Fluß. Den Fluß gibt es auf keiner Landkarte, denn dreimal jährlich verläuft er sich im Flugsand. Ein Teil seines Bettes ist unterirdisch. Ja, ein paar Lehmhütten, das Baumaterial aus Schlamm in der Sonne gebrannt. Dort hauste Nfo Tuabe. Er konnte nicht Englisch, woher auch. Ich hatte zwei Dolmetscher mit. Der erste übersetzte meine Worte in den Küstendialekt, der zweite aus diesem in die Sprache der Buschmänner. Über den ganzen Urwaldgürtel, angefangen vom sechsten Breitengrad, herrscht dort eine alte Königsfamilie. Nachfahren der Ägypter, wie ich glaube.
Sie sind größer und viel intelligenter als die Neger aus Zentralafrika. Nfo Tuabe zeichnete mir sogar eine Karte und markierte darauf die Grenzen des Königreichs. Ich habe seinen Sohn von der Schlafkrankheit geheilt. Und eben dafür…“
Ohne die Augen zu Öffnen, griff der Professor in seine Innentasche und entnahm dem Notizblock ein Blatt Papier, auf dem sich wirre, mit roter Tinte gezeichnete Linien wanden.
„Man findet sich schwer darauf zurecht… Hier ist, wie abgeschnitten, der Dschungel zu Ende. Das ist die Grenze des Königreichs. Ich fragte, was dahinter wäre. Das wollte er mir bei Nacht nicht sagen, ich mußte am Tage wiederkommen.
Читать дальше