Grund zur Langeweile hatte keiner von uns, da wirden vollen Terminalservice besaßen. Die Menschen sind heute an das Computernetz dermaßen gewöhnt daß man leicht vergißt, was für ein weites Fenster zur Welt diese Maschine sein kann — und da nehme ich mich nicht aus. Man stumpft ja sehr ab, wenn man ein Terminal nur auf bestimmte Weise benutzt — Rechnungen bezahlen, Telefonanrufe vornehmen Nachrichten anhören — und die vielschichtigen anderen Möglichkeiten vernachlässigt. Ist der Teilnehmer bereit, für den Service zu bezahlen, läßt sich mit einem Terminal beinahe alles verrichten, was außerhalb des Bettes möglich ist.
Live Musik? Ich konnte ein Konzert wählen, das heute abend in Berkeley stattfinden würde, doch ein vor zehn Jahren gegebenes Konzert, dessen Dirigent tot ist, stellt sich dem Zuhörer nicht minder „live“ nicht minder unmittelbar dar als die Programme, die heute aufgeführt wurden. Den Elektronen ist das gleichgültig. Sobald Daten ins Netz gehen, egal wie sie aussehen, steht die Zeit still. Man muß nur daran denken, daß die unzähligen Reichtümer der Vergangenheit zur Verfügung stehen, sobald man sie sich durch Knopfdruck ins Zimmer holt.
Der Chef schickte mich am Computerterminal zur Schule, was mir viel mehr Gelegenheiten eröffnete als früher ein Student in Oxford oder an der Sorbonne oder in Heidelberg genossen hätte.
Zuerst hatte ich gar nicht den Eindruck, in die Schule zu gehen. Am ersten Tag forderte man mich beim Frühstück auf, beim Ersten Bibliothekar vorzusprechen. Es handelte sich um einen väterlich wirkenden älteren Mann, Professor Perry, den ich schon während meiner Grundausbildung kennengelernthatte. Er wirkte gehetzt — was ich verstehen konnte da die Bibliothek des Chefs vermutlich der umfassendste und komplizierteste Teil des Umzugs über die Grenze ins Pajaro Sands gewesen war. Zweifellos mußte Professor Perry noch etliche Wochen schuften bis alles geregelt war — und in der Zwischenzeit erwartete der Chef nichts anderes als Vollkommenheit.
Die Arbeit wurde nicht gerade dadurch erleichtert daß der Chef seine Bibliothek zum großen Teil in Form von papierenen Büchern halten ließ, anstatt sich auf Kassetten oder Mikrofiches oder Speicherwerke zu verlassen.
Als ich mich bei ihm vorstellte, sah mich Perry niedergeschlagen an und deutete auf eine Konsole in der Ecke. „Miß Freitag, warum setzen Sie sich nicht dort nieder?“
„Was soll ich denn tun?“
„Wie? — Das ist schwer zu sagen. Zweifellos wird man es uns mitteilen. Äh … ich habe im Augenblick schrecklich viel zu tun und viel zu wenig Personal.
Warum machen Sie sich nicht einfach mit dem Gerät vertraut, indem Sie irgend etwas studieren? Sie können es sich aussuchen.“
Die Anlage hatte nichts Besonderes, außer daß sie über Zusatztasten verfügte, die den direkten Zugriff auf mehrere wichtige Bibliotheken ermöglichten — beispielsweise Harvard oder die Washingtoner Bibliothek der Atlantischen Union oder des Britischen Museums. Außerdem stand mir natürlich die Bibliothek des Chefs zur Verfügung, die sich neben mir erhob. Ich konnte sogar die eingebundenen Papierbücher über Bildschirm lesen, wenn ich wollte; die Seiten waren dann mit der Tastatur umzudrehen, unddas Buch selbst wurde nicht aus seiner Stickstoffhülle herausgenommen.
An jenem Morgen ging ich im Schnellauf durch den Index der Universitätsbibliothek Tulane (einer der besten in der Lone-Star-Republik), denn ich war auf der Suche nach Informationen über die Geschichte von Alt-Vicksburg. Plötzlich stolperte ich auf einen Querverweis zu Spektraltypen von Sternen und kam nicht mehr davon los. Ich weiß nicht mehr, warum der Verweis gegeben wurde, es gibt aber solche Vermerke aus den unmöglichsten Gründen.
Ich las noch immer über die Evolution der Sterne als Dr. Perry vorschlug, wir sollten gemeinsam zum Mittagessen gehen.
Wir taten das schließlich, doch ich machte mir vorher noch Notizen über den mathematischen Teil, den ich mir näher anschauen wollte. Astrophysik ist faszinierend — aber man muß sich auf die entsprechende Sprache verstehen.
An diesem Nachmittag kehrte ich zum Alten Vicksburg zurück und geriet über eine Fußnote an Showboat, ein Musical, das jene Ära behandelte — anschließend verbrachte ich den Rest des Tages mit interessanten Musicals vom Broadway, Produktionen aus den glücklichen Tagen, ehe die Nordamerikanische Föderation in Stücke fiel. Warum wird heute solche Musik nicht mehr gemacht? Die Leute damals müssen sich toll vergnügt haben! Ich jedenfalls hatte meinen Spaß — ich spielte Showboat, den Bettelstudenten und My Fair Lady und merkte mir ein Dutzend anderer Stücke, die ich später noch sehen wollte. (Das war Schulbesuch?)
Am nächsten Tag faßte ich den Entschluß, michdem ernsthaften Studium professioneller Themen zu widmen, bei denen ich Schwächen zeigte, denn ich war davon überzeugt, daß ich keine Zeit mehr haben würde für die Gebiete meiner Wahl, sobald meine Lehrer (wer immer sie waren) den Lehrplan festgesetzt hatten — frühere Trainingsperioden in der Mannschaft des Chefs hatten mich gelehrt, daß ich eigentlich einen 26-Stunden-Tag brauchte. Beim Frühstück aber fragte mich Anna: „Freitag, was kannst du mir über den Einfluß von Louis Onze auf die französische Lyrik sagen?“
Ich blinzelte sie an. „Gibt’s da einen Preis zu gewinnen? Louis Onze hört sich wie ein Käse an. Das einzige französische Gedicht, an das ich mich erinnern kann, ist Mademoiselle von Armentières. Wenn das in Frage kommt.“
„Professor Perry meinte, du wärst die Person, die man danach fragen müßte.“
„Er will dich nur ärgern.“ Als ich die Bibliothek erreichte, schaute Papa Perry hinter seiner Konsole auf.
„Guten Morgen“, sagte ich. „Anna sagte, Sie hätten sie aufgefordert, mich nach dem Einfluß des Elften Louis auf die französische Dichtkunst zu fragen.“
„Ja, ja, natürlich. Würden Sie mich jetzt bitte nicht stören? Diese Programmierarbeit ist sehr wichtig.“ Er senkte den Kopf und schloß mich damit wieder aus seiner Welt aus.
Frustriert und irritiert tippte ich Louis XI. ein. Zwei Stunden später holte ich zum erstenmal wieder Luft.
Über die Dichtkunst hatte ich nichts gelernt — soweit ich feststellen konnte, hatte der Spinnenkönig nicht einmal „ton con“ mit „C’est bon“ gereimt, ganz zu schweigen davon, daß er ein Mäzen der Künste ge-wesen wäre. Aber ich lernte viel über die Politik im fünfzehnten Jahrhundert. Gewalttätig. Dagegen sahen die kleinen Auseinandersetzungen, in die ich geraten war, wie Streitereien im Kindergarten aus.
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mir französische Lyrik seit 1450 auf den Schirm zu holen.
Stellenweise gut. Das Französische ist eine Sprache der Dichter, mehr noch als das Englische — da muß schon ein Edgar Allan Poe kommen, um den Dissonanzen der englischen Sprache immer wieder Schönheit abzuringen. Das Deutsche ist für die Lyrik nicht geeignet, sogar so wenig, daß Übersetzungen dem Ohr weicher klingen als die deutschen Originale. Das ist nicht die Schuld von Goethe oder Heine; es ist einfach der Mangel einer häßlichen Sprache. Spanisch ist so musikalisch, daß eine Waschmittelreklame in dieser Sprache dem Ohr lieblicher klingt als der beste Vers auf Englisch — die spanische Sprache ist so schön, daß ein Großteil der Dichtung sich am besten ausmacht, wenn der Zuhörer die Bedeutung nicht versteht.
Ich fand nicht heraus, welchen Einfluß Louis XI. auf die Lyrik nahm — wenn er sich überhaupt jemals darum gekümmert hatte.
Eines Morgens stellte ich fest, daß „meine“ Konsole besetzt war. Fragend musterte ich den Ersten Bibliothekar. Wieder schien er nicht zu wissen, was er zuerst tun sollte. „Ja, ja, es ist hier heute ziemlich eng.
Hm, Miß Freitag, warum benutzen Sie nicht das Terminal in Ihrem Zimmer? Es verfügt über dieselben Zusatzkontrollen, und wenn Sie bei mir rückfragen müssen, können Sie das noch schneller tun als von hier unten. Sie brauchen nur LOCAL 7 und IhrenKode zu tippen; ich gebe dem Computer Anweisung Ihnen Vorrang einzuräumen. Einverstanden?“
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