Das Genfer Abkommen hatte die Menschen nicht in Engel und die zwischenstaatlichen Beziehungen nicht in Umgangsformen verwandelt, in denen Heilige miteinander verkehren. Daher wurde der Mond nach Abschluß aller Arbeiten zum verbotenen Gebiet erklärt, das nicht einmal der Lunar Agency zugänglich war. Sollten die Sicherungssysteme auf einem der Testgelände einen Angriff oder gar Durchbruch melden, erführe davon augenblicklich die ganze Erde, weil jeder Sektor eine sensorengespickte Schutzhülle besaß, die selbsttätig und ohne Unterlaß wachte. Die Sensoren sollten Alarm schlagen, sobald eine beliebige Waffe — sei es nur eine Ameise aus Metall — jene Grenze überschritt, die von einem Streifen Niemandsland markiert war. Da auch dies keine hundertprozentige Sicherheit vor einem Krieg bot, hatte man sich mit der sogenannten Doktrin der totalen Unkenntnis zu helfen gewußt: Jede Regierung wußte zwar, daß sich in ihrem Sektor immer wirksamere Waffen entwickelten, aber sie wußte nicht, was sie taugten und — das vor allem! — ob sie den in anderen Sektoren entstehenden Waffen überlegen waren. Sie konnte es nicht wissen: Der Ablauf von Evolutionen ist nicht voraussehbar. Das ist schon vor geraumer Zeit exakt nachgewiesen worden, nur stand der Erkenntnis als Hauptklippe im Wege, daß Politiker und Generalstäbler unempfänglich sind für die Argumente der Wissenschaft. Die Unbeugsamen wurden nicht durch logische Beweisführungen umgestimmt, sondern durch den das traditionelle Rüstungswesen verursachten, fortschreitenden Wirtschaftsruin. Auch dem komplettesten Idioten mußte letztlich klarwerden, daß es für den allgemeinen Untergang gar keines Krieges, atomar oder nicht, sondern der bloßen weiteren Eskalation der Kosten bedurfte. Da über Rüstungsbegrenzung aber schon seit Jahrzehnten ergebnislos verhandelt worden war, erwies sich das Mondprojekt als der einzige reale Ausweg. Jede Regierung durfte annehmen, dank ihren Mondbasen militärisch immer stärker zu werden, konnte ihre dort entstehende Vernichtungskapazität jedoch nicht mit der anderer Mächte vergleichen. Da also niemand sicher sein konnte, den Sieg davonzutragen, konnte sich auch niemand das Risiko eines Krieges erlauben.
Die Achillesferse dieser Lösung war die Wirksamkeit der Kontrolle. Die Experten waren sich von vornherein im klaren, daß die Programmierer eines jeden Staates es zuallererst darauf anlegen würden, die auf den Mond verlagerten Systeme so auszustatten, daß sie sich einer wirksamen Überwachung entziehen konnten — nicht etwa durch einen plumpen Angriff auf die Kontrollsatelliten, sondern ein listigeres, schwerer aufklärbares Manöver durch die Einschaltung in den Funkverkehr und die Fälschung der zur Erde und insbesondere an die Lunar Agency übermittelten Beobachtungsdaten.
An all das erinnerte ich mich recht gut, und daher fühlte ich mich, als ich mit Tarantoga ins Flugzeug stieg, schon viel ruhiger. Im Sessel zurückgelehnt, kämmte ich weiter mein Gedächtnis durch. Ja, alle hatten begriffen, daß die Unantastbarkeit des Friedens von der Unantastbarkeit der Kontrolle abhing, und nun ging es darum, die letztere hundertprozentig zu gewährleisten. Die Aufgabe sah unlösbar aus, ein regressus ad infinitum : Man konnte ein System schaffen, das die Unangreifbarkeit der Kontrolle überwachte. Da aber auch dieses Ziel eines Angriffs werden konnte, hätte man eine Kontrolle der Kontrolle der Kontrolle einrichten müssen, etwas, das kein Ende nahm. In dieses Loch ohne Boden trieb man dennoch einen ganz simplen Zapfen. Der Mond wurde von zwei Überwachungszonen umhüllt: Die mondnähere wachte über die Unantastbarkeit der Sektoren, die mondfernere über die Unantastbarkeit dieser ersteren. Schlußstein der Sicherheit sollte die absolute Unabhängigkeit beider Systeme von der Erde sein. Damit würde das Wettrüsten auf dem Mond unter dem Siegel kompletter Geheimhaltung vor allen Staaten und Regierungen ablaufen. Die Rüstungen durften Fortschritte machen, die Überwachung jedoch nicht. Diese sollte unverändert hundert Jahre bestehenbleiben. Eigentlich sah das alles völlig irrational aus. Jede Macht wußte, daß ihr Mondarsenal sich anfüllte, aber sie wußte nicht, wie. Folglich konnte sie daraus keinerlei politischen Nutzen ziehen, und man hätte im Grunde zur vollständigen Abrüstung schreiten und sich die Komplikationen mit dem Mond ersparen sollen, aber davon konnte keine Rede sein. Das heißt, geredet worden war darüber schon immer, seit dem Frührot der Menschheitsgeschichte, und die Ergebnisse sind bekannt. Als das Projekt einer Demilitarisierung der Erde und Militarisierung des Mondes akzeptiert wurde, war natürlich klar, daß früher oder später Versuche unternommen würden, die Doktrin der Unkenntnis zu unterlaufen. In der Tat berichteten die Zeitungen unter riesigen Schlagzeilen immer mal wieder von Erkundungsautomaten, die entweder noch rechtzeitig entkommen oder von Abfangsatelliten erwischt worden waren. Jede Seite beschuldigte daraufhin die andere der Entsendung solcher Kundschafter, deren Herkunft und Identität aber nicht auszumachen war, weil ein elektronischer Beobachter kein Mensch ist: Wenn er nur entsprechend konstruiert ist, läßt er sich auf keine Weise ausquetschen. Später ließ das Auftreten solcher anonymen Aufklärer oder Himmelsspione nach, die Menschheit atmete auf, zumal das Ganze auch eine ökonomische Seite hatte. Die Mondrüstungen hingegen kosteten keinen Heller, die Sonne lieferte die Energie, der Mond die Rohstoffe. Letzteres sollte die Rüstungsevolution zusätzlich in Grenzen halten: Auf dem Mond gibt es keine Erzlagerstätten.
Die Generalstäbler aller Seiten wollten erst auf das Projekt nicht eingehen, weil ihrer Ansicht nach eine Waffe, die den Bedingungen auf dem Monde angepaßt ist, auf Erden allein durch das Vorhandensein der Atmosphäre untauglich werden kann.
Ich weiß nicht mehr, wie der Mond seine Endlast erhielt, obgleich man mir auch das sicherlich in der Lunar Agency erklärt hatte. Ich saß mit Tarantoga in einer Maschine der British Airways , draußen herrschte ägyptische Finsternis, ich wurde mir auf einmal bewußt, daß ich keine Ahnung hatte, wohin wir flogen. Es bereitete mir Erheiterung, und ich hielt es sogar für richtig, Tarantoga nicht zu fragen. Wahrscheinlich war es ohnehin sicherer, mich von ihm zu trennen — in meiner beschissenen Lage war es für mich das beste, die Klappe zu halten und mich auf mich selber zu verlassen. Beruhigend war das Bewußtsein, daß sie nicht erfahren konnte, was ich dachte. Als hätte ich im Kopf einen Feind, obwohl ich doch wußte, daß es ein solcher nicht war.
Die Lunar Agency war ein überstaatliches Organ und wurde von der UNO gestellt. Sie hatte sich aus einer recht spezifischen Ursache an mich gewandt. Das doppelte Kontrollsystem arbeitete nämlich allzu gut . Man wußte, daß die Grenzen zwischen den Sektoren unverletzt blieben, mehr aber nicht. Phantasiebegabte oder besorgte Köpfe gebaren die Vision von einem Angriff des unbewohnten Mondes gegen die Erde. Der militärische Inhalt der Sektoren konnte nicht materiell kollidieren und keinen Informationsaustausch pflegen, aber das hatte nur für eine gewisse Zeit gegolten. Inzwischen konnten sich die Sektoren durch Erschütterungen des Mondbodens, über den sogenannten seismischen Kanal, verständigen und diese Vorgänge zur Tarnung den von Zeit zu Zeit auftretenden natürlichen Mondbeben ähnlich machen. Die sich selbsttätig vervollkommnenden Waffen könnten sich letztlich also verbünden und eines Tages ihre fürchterlich gewucherte Ladung auf die Erde loslassen. Zu welchem Zweck sie das tun sollten? Beispielsweise infolge evolutionärer Irrlaufprogramme. Und was sollten die menschenlosen Armeen davon haben, daß sie die Erde in Schutt und Asche legten? Gar nichts natürlich, aber auch der Krebs, der in den Organismen der höheren Tiere und der Menschen so häufig auftritt, ist eine ständige, wenngleich uneigennützige und sogar höchst schädliche Konsequenz der natürlichen Evolution. Als nun auf diesen Mondkrebs das Schreiben und das Reden kam, als einer solchen Invasion Aufsätze, Artikel, Romane, Filme und Bücher gewidmet wurden, kehrte die von der Erde vertriebene Angst vor der atomaren Vernichtung in neuer Gestalt zurück. Das Überwachungssystem enthielt auch seismische Sensoren, und prompt fanden sich Fachleute, die behaupteten, die Beben der Mondkruste seien häufiger geworden und ihre Kurven hätten einen anderen Verlauf als früher. Daraufhin suchte man den Kode zu knacken, den man in diesen Diagrammen vermutete, aber es kam nichts weiter heraus als zunehmende Angst. Die Lunar Agency veröffentlichte Kommuniqués, die die öffentliche Meinung beschwichtigen sollten, indem sie die Chance des Eintreffens solcher Vorfälle auf weniger als eins zu zwanzig Milliarden bezifferten. Selbst so präzise Angaben waren für die Katz, die Furcht war bereits in die Programme der politischen Parteien gesickert, es erhoben sich Stimmen, die eine periodische Kontrolle nicht nur der Grenzen, sondern der gesamten Sektoren verlangten. Sprecher der Agentur widersprachen mit der Erklärung, jedwede Inspektion könne auch Zwecken der Spionage, der Erkundung des aktuellen Stands der Mondarsenale dienen. Nach langen, verwickelten Beratungen und Konferenzen bekam die Lunar Agency endlich die Vollmacht, Überprüfungen vorzunehmen. Das wiederum erwies sich als gar nicht so leicht. Keiner der entsandten Aufklärungsautomaten kehrte zurück oder gab über Funk auch nur das kleinste Zirpen. Man schickte spezialgesicherte Landefähren mit Fernsehausrüstung. Die Satellitenbeobachtung ergab, daß sie tatsächlich an den vorausbestimmten Stellen — im Mare Imbrium, im Mare Frigoris und Nectaris, stets im Niemandsland zwischen den Sektoren — niedergingen, aber keine übertrug auch nur das geringste Bild. Es schien, als habe der Mond sie verschluckt. Das trieb die Panik natürlich erst recht auf die Spitze, es kam zu einem Fall höherer Notwendigkeit. In den Zeitungen war bereits die Rede davon, daß der Mond mit einem Präventivschlag durch Raketen mit Wasserstoffsprengköpfen bombardiert werden müsse. Solche Waffen hätten zuvor jedoch erst wieder gebaut werden müssen, es wäre wieder zur Aufrüstung gekommen! Dieser Furcht und diesem Durcheinander war meine Mission entsprungen.
Читать дальше