Wir flogen über eine dicke Wolkenschicht. Die Scheitel ihrer sanften Wellen färbten sich allmählich rosa von den Strahlen der aufgehenden Sonne. Ich dachte darüber nach, warum ich alles Irdische so gut behalten hatte, während ich mich so wenig an die Vorfälle auf dem Mond erinnern konnte. Die Ursachen ließen sich denken, nicht umsonst hatte ich seit meiner Rückkehr medizinische Fachbücher studiert. Ich wußte, daß es ein Langzeit- und ein Kurzzeitgedächtnis gibt. Die Durchtrennung des Balkens rührt nicht an das, was im Gehirn schon fest eingekerbt ist. Alle frischen, eben erst entstandenen Eindrücke verflüchtigen sich und gehen nicht ins Langzeitgedächtnis ein. Am stärksten verflüchtigt sich jedoch das, was der Delinquent kurz vor der Operation erlebt und mitbekommen hat. Ich wußte vieles nicht mehr, was mir in den sieben Wochen auf dem Mond bei meinen Streifzügen von Sektor zu Sektor passiert war. Im Kopf war nur eine Aura der Unwahrscheinlichkeit zurückgeblieben, die ich nicht in Worte fassen konnte und daher in meinem Bericht nicht erwähnt hatte. Alarmierendes war mir dort nicht vorgekommen, zumindest schien es mir so. Keinerlei Komplott, keine Mobilmachung, keine gegen die Erde gerichtete strategische Verschwörung. Das hatte ich als gewiß empfunden. Konnte ich jedoch schwören, daß das, was ich fühlte und wußte, auch alles war? Daß sie nicht noch mehr wußte?
Tarantoga blickte mich hin und wieder von der Seite an, sagte aber nichts. Wie bei jedem Flug nach Osten (wir hatten unter uns den Pazifik) kam der Kalender ins Stottern und ließ einen Tag aus. Die Fluggesellschaft sparte an ihren Gästen, wir bekamen nur ein Brathähnchen mit Salat. Das war kurz vor der Landung, die am frühen Nachmittag erfolgte — in Miami, wie sich erwies. Die Hunde vom Zoll beschnüffelten unsere Koffer, dann traten wir ins Freie, zu warm angezogen, in Melbourne war es viel kühler gewesen. Ein Auto ohne Fahrer stand für uns bereit, Tarantoga mußte es schon von Australien aus bestellt haben. Wir luden das Gepäck in den Kofferraum und fuhren los. Auf dem Highway herrschte starker Verkehr, wir sprachen nicht miteinander, denn ich hatte den Professor gebeten, mir nicht einmal das Ziel unserer Fahrt zu nennen. Diese Vorsicht mochte übertrieben oder gar überflüssig sein, aber ich wollte dieser Regel folgen, solange ich keine bessere fand. Übrigens brauchte mir keiner zu sagen, wo wir nach reichlich zwei Stunden von einer Seitenstraße aus vorfuhren. Das große weiße Gebäude, umgeben von kleineren Pavillons inmitten von Palmen und Kakteen, sprach für sich: Mein vertrauter Freund hatte mich in eine Irrenanstalt gebracht. Ich hielt das nicht einmal für die schlechteste Zuflucht. Im Auto hatte ich absichtlich den Rücksitz eingenommen, um zu beobachten, ob niemand uns verfolgte. Mir kam gar nicht in den Sinn, daß ich bereits eine so wichtige und geradezu hochkarätige Person sein könne, die man weniger konventionell als in einem Spionageroman überwacht. Von einem modernen künstlichen Satelliten aus kann man nicht nur Autos beobachten, sondern sogar Streichhölzer zählen, die jemand auf einem Gartentisch verstreut hat. Das kam mir aber nicht in den Kopf, genauer gesagt, nicht in die Hälfte, der auch ohne Zuhilfenahme der Taubstummensprache begreiflich zu machen war, in welcher Sache der arme Ijon Tichy bis zum Halse steckte.
In die schlimmste Verlegenheit meines Lebens war ich ganz zufällig geraten, als ich nach meiner Rückkehr von der Entia Professor Tarantoga besuchen wollte. Ich traf ihn nicht zu Hause an, er war nach Australien geflogen. Zwar wollte er in wenigen Tagen zurück sein, da er aber eine seltene Primel züchtete, die viel Wasser brauchte, hatte er für die kurze Zeit seinen Cousin in der Wohnung einquartiert. Es war ein anderer als der, der die Klosetts weltweit nach Wandsprüchen durchforscht, Tarantoga hat eine Menge Cousins, und der hier befaßte sich mit Paläobotanik. Ich sah ihn zum erstenmal, er empfing mich im Hausmantel und ohne Hose, in die Schreibmaschine war ein Bogen Papier gespannt, ich wollte gleich wieder gehen, aber er ließ es nicht zu. Ich störe ihn durchaus nicht, sagte er, im Gegenteil, ich sei gerade zur rechten Zeit gekommen. Er schreibe nämlich ein schwieriges, bahnbrechendes Werk und könne seine Gedanken am besten sammeln, wenn er den Inhalt des gerade in Arbeit befindlichen Kapitels selbst dem zufälligsten Hörer erzähle. Ich fürchtete, er schreibe ein Buch über Botanik und werde mir den Gehirnkasten mit Knollen, Stauden und Fruchtknoten kompostieren, aber das trat zum Glück nicht ein, ich war sogar einigermaßen frappiert. Seit dem Frührot der Geschichte müssen sich, so meinte er, unter den wilden Stämmen der Urmenschen verschiedene Originale herumgetrieben haben, die unvermeidlich für verrückt gehalten wurden, weil sie alles zu essen versuchten, was ihnen vor Augen kam: alle möglichen Blätter, Knollen, Triebe und Stengel, frische und dürre Wurzeln. Angesichts der Vielzahl giftiger Pflanzen müssen sie gestorben sein wie die Fliegen, aber es gab immer wieder Nonkonformisten, die sich nicht abschrecken ließen und das gefährliche Werk weiterführten. Nur ihnen ist es zu danken, wenn wir heute wissen, daß Spargel und Spinat die Küchenarbeit lohnt, daß Lorbeerblatt und Muskatnuß zu etwas taugen, während man die Tollkirsche besser meiden sollte. Tarantogas Cousin wies mich auf eine von der Wissenschaft weltweit außer acht gelassene Tatsache hin: Allein um festzustellen, welche Pflanze sich am besten eignet, in Brand gesteckt zu werden und durch Inhalieren des sich entwickelnden Rauches Genuß zu erzeugen, mußten die Sisyphusse der Urzeit etwa 47 000 Arten von Blattpflanzen sammeln, trocknen, fermentieren, zu Röllchen drehen und schließlich in Asche verwandeln, ehe sie auf den Tabak kamen, denn schließlich war nicht jedes Zweiglein mit dem Schildchen versehen, gerade DIES eigne sich zur Herstellung sowohl von Stumpen als auch — kleingehäckselt — von schwarzem Krauser. Divisionen solcher Leute, Urbilder der Himmelfahrtskommandos, haben in Jahrhunderten alles, aber auch alles in den Mund genommen, angebissen, zerkaut, geschmeckt und geschluckt, was immer auch an Zäunen und auf Bäumen wuchs, und sie taten es auf jede mögliche Weise: roh und gekocht, mit und ohne Wasser, durchgeseiht oder nicht, in ungezählten Kombinationen. Davon haben wir heute ohne eigenes Zutun den Nutzen, indem wir wissen, daß der Sauerkohl seinen Platz an der Seite des Schweinebratens hat, während die Rübe die Begleiterin des Hasenbratens ist. Mancherorts duldet man die Rübe nicht neben dem Hasen und zieht ihr den Rotkohl vor — Tarantogas Cousin schließt daraus auf die frühzeitige Entstehung von Nationalitäten. Es gibt keine Slawen ohne Rübensuppe. Jede Nation hatte offenkundig ihre eigenen Experimentatoren, und wenn diese sich einmal für die Rübe entschieden hatten, wurde dieser auch von den Nachkommen die Treue gehalten, sosehr auch die Nachbarstämme darüber die Nase rümpften.
Über Verschiedenheiten der gastronomischen Kultur, die Unterschiede der nationalen Charaktere bedingen (die Wechselbeziehung zwischen der Pfefferminzsauce und dem Spleen der Engländer, nachzuweisen beispielsweise beim Rostbraten), will Tarantogas Cousin ein Buch extra schreiben. Darin wird er auch enthüllen, warum die Chinesen, die schon so lange so viele sind, gern mit Stäbchen essen, dazu noch alles kleingehackt, feingeschnitten und unbedingt mit Reis. Aber darauf wolle er später zurückkommen.
Jedermann wisse, wer Stephenson gewesen sei, rief er mit erhobener Stimme, jedermann feiere ihn für seine banale Lokomotive, aber was sei eine Lokomotive, die noch dazu völlig überholt, weil dampfgetrieben sei, gegen die Artischocke, die uns auf ewig bleibe? Im Gegensatz zur Technik veralten die Gemüse nicht, und er sei gerade dabei, ein Kapitel über dieses aufschlußreiche Thema zu überdenken. War Stephenson denn übrigens, als er Watts fertige Dampfmaschine hernahm und auf Räder setzte, vom Tode bedroht? Befand sich Edison, als er den Phonographen erfand, in Lebensgefahr? Im schlimmsten Fall riskierten sie die Verärgerung ihrer Familien und die Pleite. Wie ungerecht, daß die Erfinder technischen Gerümpels jedermann bekannt sein müssen, während die großen Erfinder der Gastronomie niemand kennt und niemand auch nur daran denkt, daß dem Unbekannten Küchenmeister ebensogut ein Denkmal gebührt wie dem Unbekannten Soldaten. Wie viele dieser anonymen Helden sind nicht bei ihren todesmutig unternommenen Kostproben unter schrecklichen Qualen zugrunde gegangen, beispielsweise nach dem Pilzesammeln, als man die Unterscheidung von Gift- und Speisepilz nur treffen konnte, indem man davon aß und abwartete, ob das letzte Stündlein schlug!
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