Der Flur lag menschenleer im schwachen grünlichen Licht der Nachtbeleuchtung, ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, WER hinter dieser Sache stecken mochte, ich wollte nur aus dieser Klemme heraus, aber die Nichtperson, die mich geschluckt hatte, ein mit mir farcierter Frankenstein, schritt ohne Eile vorwärts, eine blödsinnigere Lage ist kaum vorstellbar. Mir fiel Gramers Ring ein, aber was konnte er mir nützen? Selbst wenn ich gewußt hätte, ob ich ihn zwischen die Zähne oder an den Finger stecken sollte, um den rettenden Dschinn herbeizurufen — ich konnte es nicht tun. Schon zeigte sich die Tür des Krankenpavillons, dahinter, im Schatten einer alten Palme, schimmerte, ferne Lichter spiegelnd, die lackschwarze Karosserie eines großen Wagens. Von meiner mir nicht mehr willfährigen Hand angestoßen, flog die Pendeltür auf, zugleich öffnete sich die Tür zum Fond des Autos, in dem niemand saß, jedenfalls bemerkte ich niemanden darin, ich stieg schon ein, das heißt, ich „wurde eingestiegen“, denn ich leistete immer noch mit allen Kräften Widerstand. Plötzlich erkannte ich meinen Fehler. Ich durfte mich nicht wehren, denn darauf war der Lenker des Sendlings vorbereitet. Ich mußte der mir aufgezwungenen Bewegung solchen Schwung geben, daß sie übers Ziel hinausschoß. Schon in die Tür des Autos gebückt, warf ich mich nach vorn, knallte hart mit dem Schädel auf, daß mir die Sinne schwanden, und öffnete die Augen.
Ich lag neben dem Bett auf dem Fußboden, durch den Fenstervorhang sickerte grau der Morgen, ich hob die Hand vor die Augen — der Ring war weg. Also war es doch ein böser Traum gewesen, nur konnte ich nicht ausmachen, an welchem Punkt des Abends er angefangen hatte. Der Besuch Gramers war bestimmt wahr gewesen, ich sprang auf und sah im Schrank nach, meine Klamotten waren beiseite geschoben, er hatte also tatsächlich dort gesteckt. Auf dem Boden lag etwas Weißes, ein Brief. Ich hob ihn auf, der Umschlag trug keine Anschrift und enthielt nur ein maschinebeschriebenes Blatt, ohne Datum und ohne Briefkopf. Im Zimmer war es zu dunkel, die Vorhänge wollte ich nicht beiseite ziehen, ich vergewisserte mich, daß die Tür abgeschlossen war, knipste die Nachttischlampe an und sah auf das Papier.
„Wenn Du von Entführung, Folter oder welcher Quälerei auch immer träumst, und das deutlich und in Farbe , so bedeutet das, daß man Dich einem Test mit Rauschmitteln unterzogen hat. Es geht darum, erste Aufschlüsse zu erhalten, wie Du auf bestimmte — geschmacklose und geruchlose — Mittel reagierst. Wir haben keine Gewißheit, ob Du nicht schon leichte Dosen erhalten hast. Der einzige Mensch, dem Du Dich außer mir anvertrauen kannst, ist Dein Arzt. Die Schnecke.“
Diese Unterschrift wies darauf hin, daß die Nachricht von Gramer stammte. Sie konnte Wahrheit so gut wie Lüge enthalten. Ich suchte mir genau zu vergegenwärtigen, was Shapiro und was Gramer gesagt hatten. Beide stimmten darin überein, daß das gesamte Mondprojekt gescheitert war, aber sie gingen in dem auseinander, wozu sie mich zu bereden suchten. Der Professor wollte, daß ich mich untersuchen ließ, Gramer riet mir zum Warten, ich weiß nicht, worauf. Shapiro repräsentierte — jedenfalls nach eigener Aussage — die Lunar Agency, Gramer hatte über seine Brötchengeber nichts verlauten lassen. Warum aber hatte er mich nicht gleich vor Narkotika gewarnt, sondern lediglich den Brief hinterlassen? Sollte noch eine andere, dritte Seite im Spiele sein? Beide hatten mir viel erzählt, aber ich hatte nicht erfahren, warum das, was in meinem rechten Gehirn steckte, eigentlich so wichtig war. Vielleicht hatte ich etwas geschluckt, was die arme, beinahe stumme Hälfte meines Kopfes so eingeschläfert hatte, daß sie sich nicht melden konnte? Aber von welchem Zeitpunkt an? Nehmen wir an, seit dem Vortage. Zu welchem Zweck? Es sah ganz so aus, als ob alle, die Jagd auf Tichy machten, selber nicht wußten, wie es weitergehen sollte, und daher auf Zeit spielten. Ich war in diesem Spiel eine Karte von unbekannter Schlagkraft, vielleicht ein As, vielleicht auch nur eine Lusche. Eine Seite suchte die andere daran zu hindern, herauszufinden, wie es sich mit mir verhielt. Sollte man meine rechte Halbkugel eingeschläfert haben, damit ich mich nicht mit mir selber verständigen konnte? Das jedenfalls ließ sich sogleich nachprüfen. Ich nahm die linke Hand in die rechte und befragte sie in der bereits bekannten Weise.
„Wie geht es?“ fragte ich mit den Fingern. Daumen und kleiner Finger zuckten kaum merklich.
„Hallo, hörst du mich?“ signalisierte ich.
Der Ringfinger legte sich auf die Daumenkuppe und bildete mit dieser einen Kreis. „Grüß dich“, bedeutete das.
„Ja, ja, schon gut, grüß dich, aber wie geht es dir?“
„Laß mich in Ruhe.“
„Willst du wohl sofort sagen, wie es dir geht? Versteh doch, wir sitzen in einem Boot!“
„Ich habe Kopfschmerzen.“
Tatsache, in diesem Moment merkte ich, daß auch mir der Schädel brummte. Ich war auf neurologischem Gebiet inzwischen belesen genug, um zu wissen, daß ich in emotionaler Hinsicht nicht halbiert war, denn Sitz der Affekte ist das von der Kallotomie unversehrte Zwischenhirn.
„Auch mir tut der Kopf weh. UNS tut er weh, verstehst du?“
„Nein.“
„Wieso nein?“
„Eben so.“
Ich kam von diesem schweigenden Dialog ins Schwitzen, wollte aber nicht lockerlassen, um herauszukriegen, was nur möglich war. Plötzlich erleuchtete mich ein ganz neuer Gedanke: Die Gestensprache der Taubstummen verlangte große Fingerfertigkeit, aber ich beherrschte doch seit undenklichen Zeiten das Morsealphabet! Ich öffnete also meine Linke und zeichnete ihr mit dem Zeigefinger der Rechten Punkte und Striche auf den Handteller — als erstes die Buchstaben SOS — SAVE OUR SOULS. Die Linke ließ sich das einige Zeit gefallen, dann ballte sie sich zur Faust und versetzte mir einen Schlag, daß ich in die Höhe fuhr. Schon hielt ich den Versuch für gescheitert, als sie den Finger ausstreckte und mir Punkte und Striche auf die rechte Wange zeichnete. Ja, so wahr ich lebe, sie gab Antwort, sie morste zurück!
„Kitzel nicht, sonst gibt es Schläge.“
Das war der erste Satz, den ich von ihr zu hören oder vielmehr zu fühlen bekam. Reglos wie eine Statue saß ich auf der Bettkante, denn es folgten weitere Zeichen.
„Trottel.“
„Wer? Ich?“
„Jawohl. So hätte es von Anfang an gehen müssen.“
„Und du hast nichts davon verlauten lassen!“
„Hundertmal, du Idiot. Du hast es nicht gemerkt.“
Wirklich erinnerte ich mich jetzt, daß sie mich schon Dutzende Male auf verschiedene Weise gekratzt hatte, aber mir war nie in meine Gehirnhälfte gekommen, das könnten Morsezeichen sein.
„Du lieber Himmel“, kratzte ich auf die Hand, „du kannst also sprechen?“
„Besser als du.“
„Dann sprich! Du rettest mich, das heißt uns.“
Ich weiß nicht, wer in Übung kam, jedenfalls lief die stumme Zwiesprache immer schneller.
„Was ist auf dem Mond passiert?“
„Woran erinnerst du dich denn?“
Diese jähe Umkehrung der Situation verblüffte mich.
„Weißt du das nicht?“
„Ich weiß, daß du etwas geschrieben und in einem Konservenglas vergraben hast. Stimmt’s?“
„Ja.“
„Hast du die Wahrheit geschrieben?“
„Ja. Das, was ich noch wußte.“
„Und es wurde sofort ausgegraben. Bestimmt von dem ersten.“
„Von Shapiro?“
„Namen kann ich mir nicht merken. Der nach dem Mond geguckt hat.“
„Verstehst du, wenn ganz normal gesprochen wird?“
„Schwach, am ehesten noch französisch.“
Nach diesem Französisch wollte ich mich lieber nicht näher erkundigen.
„Nur Morsezeichen?“
„Am besten.“
„Dann sprich!“
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