Auf dem Fußboden, dort, wo Gramer gesessen hatte, blinkte etwas wie ein abgeplatteter Ring. Ich sah ihn mir näher an. In der Öffnung steckte ein Papierröllchen. Ich wickelte es auseinander. „Für den Notfall“, teilten krumme, wie in großer Eile geschriebene Buchstaben mit. Ich warf das Papier weg und suchte den Ring anzustecken. Er war von einem grauen metallischen Glanz, sonderbar schwer, wie von Blei. Auf einer Seite ausgebaucht, wie eine Bohne mit einem winzigen Loch, mit einer spitzen Nadel hineingestochen. Er paßte an keinen anderen Finger als an den kleinen.
Ich weiß nicht, warum dieser Ring mich stärker beunruhigte als die beiden voraufgegangenen Besuche. Wozu mochte er dienen? Ich fuhr mit ihm über die Fensterscheibe, aber er hinterließ weder eine Spur noch einen Ritz. Zuletzt leckte ich sogar daran — er schmeckte salzig. Sollte ich ihn anstecken oder nicht? Ich tat es schließlich, es machte einige Mühe, dann sah ich nach der Uhr. Mitternacht war vorüber, der Schlaf aber wollte nicht kommen. Ich wußte wahrhaftig nicht, über welche meiner Kalamitäten ich zuerst nachdenken sollte. Sorge bereitete mir sogar, daß linker Arm und linkes Bein sich so ruhig verhielten, und im Halbschlaf kam mir ihre Untätigkeit schon wie eine weitere Falle vor, die mir diesmal von innen her gestellt wurde. Wie es zuweilen vorkommt, träumte ich, ich könne nicht einschlafen, oder ich war eingeschlafen und glaubte zu wachen. Ich weiß nicht, wie lange ich mich mit der Frage herumquälte, ob ich nun schlief oder nicht, jedenfalls wurde es auf einmal heller. Der Morgen graut, dachte ich, ein paar Stunden muß ich also doch geschlafen haben. Das Licht sickerte jedoch nicht durch die Fenstervorhänge, sondern drang unter der Tür hindurch, die auf den Korridor ging. Es war so verblüffend stark, als habe man einen mächtigen Scheinwerfer auf die Schwelle meines Zimmers gerichtet. Ich setzte mich im Bett auf.
Tropfen rannen über den Fußboden, kein Wasser, sondern etwas wie Quecksilber, Kügelchen, die über das Parkett rollten, sich zu einer Lache vereinigten und meinen Bettvorleger von drei Seiten umgaben, unablässig verstärkt durch weitere Bäche, in denen diese seltsame metallische Flüssigkeit unter der Tür hindurch in mein Zimmer rann, bis der ganze Fußboden von einer Wand zur anderen wie ein Quecksilberspiegel glänzte. Ich schaltete die Nachttischlampe an. Nein, es war wohl doch kein Quecksilber, die Farbe erinnerte eher an altersdunkles Silber. Als es fast schon den Bettvorleger wegschwemmte, ging draußen plötzlich das Licht aus. Gebückt saß ich da und sah mir mit großen Augen an, wie es mit diesem metallenen Sirup weiterging. Er bestand aus mikroskopisch kleinen Tropfen, die sich zu einem pilzförmigen, immer kräftiger in die Höhe quellenden Kuchen zusammenklumpten. Kein Zweifel, sagte ich mir, das kann nur ein Traum sein, aber trotz dieser kategorischen Feststellung hatte ich nicht das geringste Verlangen, barfuß in dieses Zeug zu steigen, verstört, zugleich aber weniger erstaunt als vielmehr von einer stillen Genugtuung erfüllt, daß der lateinische Begriff des „lebenden Silbers“ so gut auf dieses Phänomen paßte. Es bewegte sich tatsächlich wie etwas Lebendiges, machte aber keinerlei Anstalten, sich zur Pflanze, zum Tier oder zu weiß Gott was für einem Monstrum zu bilden, sondern wurde zu einem bloßen Kokon, einem immer menschenähnlicheren Panzer oder vielmehr dessen schlampig ausgeführtem löchrigem Abguß, auf dessen Vorderseite ein breiter Schlitz gähnte.
Als ich mir später diese ganze Metamorphose ins Gedächtnis zu rufen suchte, erschien mir als passendster Vergleich der mit einem rückwärts laufenden Film: Zuerst hatte jemand eine kuriose Rüstung verfertigt und sie dann einer so starken Hitze ausgesetzt, daß das Metall sich verflüssigte — nur daß dies vor meinen Augen eben den umgekehrten Verlauf nahm. Erst die Flüssigkeit, dann der sich daraus formende Hohlkörper, der eben doch kein Panzer war, seinen Glanz verlor, ein mattes Aussehen annahm und zunehmend an eine riesige Schaufensterpuppe erinnerte, mit einem Kopf ohne Haare, mit einem Gesicht ohne Nase und Mund, aber mit kleinen Öffnungen anstelle der Augen. Schließlich entstieg diesem ganzen Gewoge, von dem mir ganz wirr im Kopfe wurde, eine überdimensionale Frauengestalt oder besser gesagt eine Frauenstatue, innen leer, vorne offen und geräumig wie ein Schrank. Der Teufel soll mich holen, aber das Ding sonderte Bekleidung ab: Erst überzog es sich mit Weiß wie mit Unterwäsche, dann legte sich darüber hellgrün ein Kleid, und da ich nun beruhigt war, daß alles nur ein Traum sein konnte, stand ich auf und näherte mich dem Phantom. Da wurde das grüne Kleid zum weißen Kittel, das Gesicht nahm immer deutlichere Züge an, das Blondhaar verschwand unter einem weißen Schwesternhäubchen, gesäumt von scharlachrotem Samt.
Das reicht, dachte ich und war ernsthaft zum Aufwachen entschlossen. So was Blödes von Traum! Anfassen aber wollte ich das Traumbild lieber doch nicht, unschlüssig stand ich da, sah mich im Zimmer um, musterte im Licht der Nachtlampe den Schreibtisch, die Fenstervorhänge und die Sessel. Dann sah ich wieder die Erscheinung an. Sie ähnelte stark der Schwester Didy, die ich häufig im Park und bei Doktor Hous gesehen hatte, war aber viel stärker und größer. „Tritt in mich ein“, sagte sie, „dann kommst du hier raus. Du nimmst den Toyota des Doktors, das Tor steht offen. Erst mußt du dich aber anziehen und Geld einstecken, dann kannst du dir ein Ticket kaufen und zu Tarantoga fliegen. Na los, steh nicht rum wie Pik-Sieben. Wenn du als Krankenschwester herumsteigst, hält dich keiner auf.“
„Sie ist aber größer als du …“, stotterte ich völlig benommen, nicht nur von ihren Worten, sondern auch davon, daß sie gar nicht mit dem Mund sprach. Die Stimme kam aus ihrem Körper, der sich von innen her geöffnet, den weißen Kittel beiseite geschlagen hatte und mir Einlaß bot. Ob ich davon Gebrauch machen sollte, war eine andere Frage, aber plötzlich liefen meine Gedanken sehr präzise, am Ende war das wohl gar kein Traum, ich hatte ja am eigenen Leibe die Realität der Technik molekularer Teleferistik erlebt, und so war das alles vielleicht Wirklichkeit? Wie konnte man dann aber wissen, ob sich dahinter nicht eine Falle verbarg?
„Die Größe spielt im Dunkeln keine Rolle. Komm endlich aus der Knete! Zieh dich an und schnapp dir dein Scheckheft!“
„Aber warum soll ich abhauen, und wer bist du eigentlich?“ fragte ich, begann mich aber anzuziehen, nicht weil ich mich tatsächlich in dieses unvermutete Unternehmen einzulassen gedachte, sondern weil ich mich bekleidet sicherer fühlte.
„Ich bin niemand, das siehst du doch“, sagte sie. Die Stimme klang dennoch weiblich, tief und sympathisch, ein bißchen dumpf. Sie kam mir bekannt vor, aber ich wußte nicht, woher. Auf dem Saum des zerknüllten Bettlakens sitzend, schnürte ich mir die Schuhe und fragte: „Wer hat dich dann also hergeschickt, Frau Niemand?“
Ich sah zu ihr auf, sie aber fiel, ehe ich mich besinnen konnte, über mich her, umschlang mich, nicht mit den Armen, sondern dem ganzen Körper, sie nahm mich in sich auf, und das ging ganz schnell: Eben hatte ich noch im Pullover und ohne Schlips auf der Bettkante gesessen und gespürt, daß ich den linken Schuh zu fest geschnürt hatte, und plötzlich steckte ich in diesem leeren Geschöpf, dessen Inneres mich eng umschloß, als habe mich eine Pythonschlange verschluckt. Ich kann das nicht besser beschreiben, weil ich es zum ersten Mal erlebte. Es war da drinnen eigentlich ganz mollig, durch die Augenöffnungen sah ich das Zimmer, nur bewegen konnte ich mich nicht frei, sondern mußte mitmachen, wie sie wollte. Sie oder was auch immer diesen Sendling steuerte, um mich dorthin zu kriegen, wo alles sehnlichst auf Ijon Tichy wartete. Vergebens spannte ich die Muskeln an, um mich der Vogelscheuche zu widersetzen, meine Glieder gehorchten nicht mir, sondern einem fremden Willen, der sie beugte und streckte und meine Hand die Türklinke niederdrücken hieß. Ich sträubte mich aus Leibeskräften, aber das half gar nichts.
Читать дальше