Es war nicht ganz auszumachen, wem der beiden Störenfriede die größere Aufmerksamkeit galt, dem gebeugt und auf einen Stock gestützt gehenden Männchen, dessen seltsamer Spitzbart ihm das Aussehen eines überdimensionierten Gartenzwerges verlieh, oder seiner jungen Begleiterin, die ihn um mindestens einen Kopf überragte.
»Wer is’n das?« flüsterte Micha der neben ihm sitzenden Karin ins Ohr.
»Wen meinst du?« zischte sie zurück. »Die Frau?«
Wenn er ehrlich war, interessierte ihn tatsächlich nur die Frau. An seiner himmelschreienden Notlage hatte sich noch immer nichts geändert, und es grenzte schon an Untertreibung, wenn er diese Frau, die da plötzlich auf der Bildfläche erschienen war, nur als eines der hinreißendsten Geschöpfe beschrieb, die ihm jemals unter die Augen gekommen waren. Den zwei Dritteln der Zuhörerschaft, die dem männlichen Geschlecht angehörten, schien es nicht viel anders zu gehen. Die Köpfe folgten jeder Bewegung ihres Körpers wie an einem Gummizug, bis sie an der Seite ihres Begleiters endlich einen freien Platz gefunden hatte. Wenn es nach Micha gegangen wäre, dann hätte er diesen Fossilienfritzen da unten, der inzwischen nach seinem kurzen Stolperer unverdrossen weitergeredet hatte, auf der Stelle in Ehren entlassen und den Rest der Zeit damit verbracht, diese Frau anzuhimmeln.
»Na, beide«, sagte er zu Karin, die ihm einen spöttischen Blick zuwarf.
»Ich glaube, das ist Sonnenberg, der Paläontologe«, flüsterte sie, »aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe ihn noch nie gesehen.«
Er schluckte. »Und sie?«
»Was weiß ich.« Sie grinste und legte den Kopf schief. »Vielleicht seine Geliebte?«
Nachdem Sonnenberg mit lautem Poltern endlich seinen Stock untergebracht hatte, konzentrierte sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf den Vortragenden.
»Nachdem 1971 der industrielle Abbau des Ölschiefers eingestellt wurde, entwickelte sich die Grube zum Eldorado der Hobbypaläontologen. An manchen Wochenenden tummelten sich bis zu dreihundert von ihnen in der Grube. Aus dieser Zeit stammen einige der bemerkenswertesten Fundstücke wie der 1974 ausgegrabene Ameisenbär, bis heute der einzige seiner Art. Obwohl die private Sammeltätigkeit offiziell verboten war, duldeten die Behörden das bunte Treiben, bis die Grube Ende 1974 für die Öffentlichkeit gesperrt wurde, weil das Gelände zur zentralen Mülldeponie Südhessens ausgebaut werden sollte.
Der Zweckverband Abfallverwertung Südhessen, kurz ZAS, kaufte 1975 das gesamte Grundstück der Grube Messel, und trotz weltweiter Proteste entschied das Verwaltungsgericht Darmstadt 1981 zugunsten der geplanten Mülldeponie ...«
Es fiel Micha zunehmend schwerer, den eintönig vorgetragenen Ausführungen des Paläontologen zu folgen, denn sie wandte ihm genau ihr Profil zu. Immer wieder kehrten seine Augen von dem nur geringe optische Reize bietenden Referenten zu ihrer süßen Stupsnase zurück, ihrer fast schwarzen Mähne. Ihr Körper hatte auf den wenigen Metern von der Privilegiertentür bis zu ihrem Sitzplatz so durchtrainiert gewirkt, so kraftvoll und von katzenhafter Geschmeidigkeit, als könnte sie, wenn sie nur wollte, die Schwimmweltrekorde einfach so aus dem Handgelenk schütteln. Während der kleine Professor, der von Micha aus gesehen zwischen ihnen saß, fast völlig in seinem Sitz versunken war, saß sie kerzengerade da und starrte mit unbeweglichem Gesicht, aber rosig glänzenden Wangen nach vorne.
»... Das Gestein besteht aus einem faulschlammähnlichen Pflanzenzersetzungsprodukt, das mit dem Mineral Montmoril-lonit zu einem fälschlicherweise als Ölschiefer bezeichneten Material verfestigt wurde. In der feinkörnigen Grundmasse sind Algen, Pilze und Pollen nachweisbar .«
In diesem makellosen Gesicht rührte sich nichts. Sie würdigte ihre Umgebung keines Blickes.
»... der See wies wie viele heutige Seen auch eine ausgeprägte Schichtung auf. Einer etwa fünf Meter tiefen vitalen, eutrophen Zone mit sehr hoher Biomassenproduktion folgte eine sauerstoffarme bis -freie Zone. Am Boden verfestigte sich das herabsinkende Sediment und das organische Material unter anaeroben Bedingungen zu Ölschiefer. Schließlich verlandete der Messeler See wie eine obenliegende Deckschicht aus Braunkohle beweist .«
Der kleine, fast unsichtbare Professor flüsterte ihr etwas zu, Micha und eine größere Zahl weiterer Zuhörer konnten es deutlich erkennen. Als sie ihren Kopf etwas zur Seite drehte, war ihm, als träfen sich für einen Sekundenbruchteil ihre Blicke. Plötzlich gab es nur diese dunklen Augen, ringsherum absolute Stille, und ihm schoß ein Hormonstoß durch die Gefäße, der es ihm fast unmöglich machte, still sitzen zu bleiben. Sie nickte. Dann drehte sich ihr Gesicht wieder nach vorne.
»... Die Fossilien des Sees stammen aus vier unterschiedlichen Lebensräumen:
1. dem Wasserkörper mit seinen Fischen und Planktonorganismen,
2. den Uferregionen des Sees, repräsentiert durch Schildkröten, Krokodile und verschiedene Amphibien,
3. der näheren und weiteren Umgebung, wobei die zu dieser Gruppe gehörenden Echsen und Säugetiere wie die Urpferd-chen vermutlich über Zuflüsse und Überschwemmungen in den See gespült wurden, sowie
4. dem Luftraum. Vögel, Fledermäuse und unter Umständen auch Insekten könnten beim Überfliegen des Sees durch aufsteigende giftige Faulgase betäubt, abgestürzt und ertrunken sein .«
Wer war sie? Warum war er ihr noch nie begegnet? Seine Tochter? Eine Studentin, eine Diplomandin? Er hatte noch nie von einem Paläontologen an ihrem Fachbereich gehört. Der Mann schien sich ziemlich rar zu machen. Vielleicht sollte er das Fach wechseln. Vielleicht war Insektenökologie doch nicht so aufregend, wie er gedacht hatte.
Plötzlich wurde es schummrig im Saal, denn Schuberts Assistent am Diaprojektor hatte das Signal erhalten, daß seine große Stunde gekommen war.
Da Sonnenbergs Nachbarin nun nicht mehr zu erkennen war, blieb Micha nichts weiter übrig, als sich den Dias zuzuwenden. Nach Übersichtsaufnahmen vom wenig eindrucksvollen Grubengelände folgte eine ermüdende Serie von bräunlichschwarzen Skeletten, deren verwirrende Knochenvielfalt Micha allenfalls signalisierte, daß es sich um verschiedene Arten von Wirbeltieren handelte. Die Luft im vollbesetzten Vorlesungssaal wurde langsam stickig. Die nicht enden wollende Folge von Schildkröten- und Krokodilarten, von Insektenfressern, Nagetieren, Schuppentieren und Urpferdchen fand ein abruptes Ende, als aus der Richtung des Diaprojektors plötzlich ein maschinengewehrartiges, nach der vorangegangenen Stille geradezu ohrenbetäubendes Rattern erklang, welches das Auditorium aus seinem kollektiven Dämmerzustand riß.
Der Projektor war irgendwie hängengeblieben. Jemand machte Licht und die in sich zusammengesunkenen Zuhörer und Zuhörerinnen begannen sich zu strecken und zu tuscheln. Endlich fand Schuberts Assistent, dem sich nun die Aufmerksamkeit des gesamten Saales zugewendet hatte, den Schalter, der das enervierende Geratter abstellte. Sein Kopf glühte wie eine Laterne, und mit hektischen Bewegungen versuchte er des Problems Herr zu werden. Auch sie hatte sich umgedreht und, ja, er täuschte sich nicht, ein feines, schlichtweg umwerfendes Lächeln umspielte ihren Mund.
Der geplagte Vorführer hatte natürlich im Moment ganz andere Sorgen. Die Bedienung des Diaprojektors konnte sich in Windeseile von einem hochgeschätzten Privileg in ein elendes Martyrium verwandeln. So war es zum Beispiel keine leichte Aufgabe zu erkennen, wann die Referenten ein neues Dia projiziert haben wollten. Da die meisten Redner das monotone »Das nächste Dia, bitte!« vermeiden und sich neben ihren Folien und Manuskriptseiten nicht auch noch die Fernbedienung des Projektors aufhalsen wollten, hatte sich eine Art Zeichensprache eingebürgert, die nur leider in keiner Weise normiert war. Wurde ein langer Zeigestock aus Bambus oder Holz benutzt, war es üblich, mit dem Ende kurz auf den Boden zu tippen. Manche Referenten stampften derart herrisch mit dem Stockende auf den Boden, daß die auf diese Weise malträtierten Zeigestöcke ganz abgeplattete Enden bekamen und nur eine geringe Lebensdauer erreichten. Es hörte sich an, als würde ein Lakai bei Hofe das Erscheinen des Königs ankündigen. So unschön diese Methode auch war, sie verhinderte, daß eine flüchtige Geste, ein Kratzen am Kinn, ein Wechsel des Standbeins im verdunkelten Vortragssaal als Aufforderung zum Diawechsel mißverstanden wurde. Das Auditorium wurde nicht aus seiner Konzentration, der Vortragende nicht aus seinem Redefluß gerissen, und dem Vorführer blieb erspart, vor allen Anwesenden als der Dumme dazustehen, denn es gab eine unumstößliche goldene Regel: Was auch geschieht, der Referent hat immer recht.
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