»Vielen Dank!«
»Bitte, bitte«, sagte Axt und wandte sich nun endgültig Sonnenberg zu. Michael brachte es nicht fertig, die direkt hinter Sonnenberg stehende Schwarzhaarige aus der Nähe zu betrachten. Er verspürte einen schmerzhaften Stich. Wieder eine verpaßte Gelegenheit. Feigling, dachte er, elender Feigling.
Er drehte sich mit gesenktem Kopf um, wollte rasch zu seinen wartenden Kollegen zurückkehren und lief direkt in Tobias hinein, der, ohne daß er etwas davon bemerkt hätte, direkt hinter ihm gestanden hatte.
»Huch!« entfuhr es ihm. »Was machst du denn hier?«
»Na, dasselbe wie du, nehme ich an.« Tobias grinste so dämlich, daß Micha ihm am liebsten seinen diamantengeschmückten Vorderzahn eingeschlagen hätte. Aber dann geschah etwas Unfaßbares, und das versetzte ihn in tiefste Depression, die noch tagelang anhalten sollte. Tobias kannte sie.
Während Sonnenberg Axt begrüßte und Micha mit halbem Ohr hörte, wie der kleine Paläontologe sich vorstellte und Axt zu einem Besuch seines Instituts einlud, mußte er mitansehen, wie Tobias ihn stehenließ, auf die dunkelhaarige Schönheit zuging, ihre Hand ergriff und ihr einen Kuß auf die Wange drückte. Auch wenn sie keine Miene dabei verzog, Tobias keinen Millimeter entgegenkam und auch kein Wort sagte, versetzte ihm die bloße Tatsache, daß diese Vogelscheuche, dieses knochige, kantige, abstoßend häßliche Klappergestell ihre Hand schütteln, ihre Wange küssen durfte, einen solchen Tiefschlag, daß er augenblicklich das Weite suchte und nicht mehr mitbekam, wie Axt Sonnenbergs Einladung annahm und die beiden sich für Freitag nachmittag verabredeten.
Halluzinationen
Zwei Tage später ging Micha in die Bibliothek und suchte dort alles über die Grube Messel zusammen, was er finden konnte. Überall in den einschlägigen Büchern prangte ihm dieser Käfer entgegen. Er schien so eine Art Paradebeispiel zu sein. Er glich dem Exemplar, das ihm Tobias geschickt und das er sich mittlerweile noch einmal genau angeschaut hatte, tatsächlich in verblüffender Weise. Natürlich konnte man außer Form und Farbe der Flügeldecken kaum Einzelheiten erkennen, aber Größe, Gestalt und metallischer Glanz des Tieres stimmten genau, sogar die unterbrochenen bronzefarbenen Linien waren deutlich zu erkennen.
Als er in drei weiteren schwergewichtigen Werken Bemerkungen über ein fossiles Seerosengewächs mit dem schönen Namen Barclaya fand, das zu Messeler Zeiten offensichtlich weit verbreitet war und dessen nahe Verwandte noch heute in Südostasien zu finden waren, schwanden ihm die Sinne, und er umfaßte mit aller Kraft die Tischkante seines Lesepultes, um nicht vom Stuhl zu kippen. Mitten im tiefsten Gefühlsdurcheinander spürte er plötzlich eine Hand auf der Schulter, so daß er vor Schreck laut aufschrie und sich ringsumher die von ihrer Lektüre aufblickenden Gesichter der anderen Bibliotheksbenutzer in seine Richtung drehten.
»Na, na, so schreckhaft?« hörte er Claudias tiefe Stimme. Reflexartig klappte er die Bücher zu, die er vor sich auf dem Lesepult ausgebreitet hatte.
»Ach, du hast das!« sagte sie und nahm einen der dicken Wälzer in die Hand. »Das hab ich gerade gesucht.«
»Ja, ich ... ich ...« Verzweifelt suchte er nach einer Erklärung.
»Mann, du siehst ja aus, als ob dir der Leibhaftige persönlich erschienen wäre.« Sie sah ihn besorgt an. »Geht’s dir nicht gut?«
»Doch, doch, alles klar, wirklich. Ich sammle Fossilien, weißt du.«
»Na, da ist doch nichts dran auszusetzen«, erwiderte sie schmunzelnd.
»Na ja, und da habe ich mir eben diese Bücher zusammengesucht.«
»Ist doch in Ordnung!«
»Und außerdem muß ich jetzt weg«, stieß er atemlos hervor, sprang auf und verließ fluchtartig den Lesesaal, ohne sich noch einmal umzuschauen.
O Gott, was soll die jetzt von mir halten, dachte er und mußte unten auf der Straße mit Gewalt den Impuls bekämpfen, wieder umzudrehen. Aber was sollte er ihr sagen? Er hatte sich so ungewöhnlich verhalten, daß jede Erklärung alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Die Wahrheit konnte er ihr kaum erzählen, sonst hätte sie ihn für völlig übergeschnappt gehalten.
Aber was war eigentlich die Wahrheit? Das Ganze nahm so absurde Züge an, daß das Wort Wahrheit in diesem Zusammenhang unangebracht schien. Im Kino hätte er das alles sicher sehr komisch gefunden, genau die Art realitätssprengender Phantastik, die ihm gefiel, zack, ein klaffender Spalt, ein Riß in der Welt und dahinter etwas völlig Neues, Unbekanntes, aber, verdammt noch mal, das hier war kein Film, eher schon eine besonders hinterhältige Form von Alptraum, ein böser Flashback halluzinogener Drogen, nur daß er keine Drogen genommen hatte. Immerhin wäre das eine halbwegs vernünftige Erklärung gewesen.
In ihm war eine absurde Idee aufgestiegen, so aberwitzig, daß ihm schwindlig davon wurde. Tobias, seine fixe Idee von der Reise in die Urzeit, damals, als sie noch Kinder waren, dieses ganze Theater um den Käfer und die mitgebrachte Pflanze und die widersprüchlichen Ergebnisse, die seine und Claudias Nachforschungen ergeben hatten. All diese verwirrenden Ereignisse der letzten Wochen schienen plötzlich einen völlig verrückten, absolut unmöglichen Sinn zu geben.
Er beschloß, zu Fuß zum Institut zurückzulaufen, um in der kalten Herbstluft etwas Ordnung in sein gedankliches Chaos zu bringen. Wie eingesponnen in einen Kokon düsterster Traumwelten, lief er los, ungefähr in die Richtung, wo er sein Institut vermutete, das zwei U-Bahnstationen entfernt lag. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, achtete kaum darauf, was um ihn herum vorging, wählte an Kreuzungen, ohne groß nachzudenken, die eine oder andere Richtung und stellte irgendwann fest, daß er sich verirrt hatte.
Die Freie Universität mit ihren zahllosen Instituten und sonstigen Einrichtungen lag über ein großes Areal verstreut, ein Wirrwarr von kleinen Straßen mit rätselhaften Namen wie Im Dol oder Im Schwarzen Grund und niedlichen Parkanlagen mit kleinen Teichen und gepflegten Blumenrabatten, eine der besten Wohnlagen Berlins, eine ausgedehnte Gartenstadt mit hochherrschaftlichen, weinlaubüberwucherten Villen und schmucken Einfamilienhäusern, und manche davon entpuppten sich bei näherem Hinsehen als Institute der Universität.
Die Straßen, durch die er jetzt lief, waren ihm völlig unbekannt und menschenleer, so daß er auch niemanden fragen konnte. Wirklich beunruhigend war seine Lage freilich nicht, denn irgendwo würde er sicher auf eine Buslinie treffen, die ihn wieder in vertrautere Gefilde zurückbefördern konnte, aber in seinem Zustand hochgradiger Erregung mußte er bald gegen Panikgefühle ankämpfen. Sein Gang wurde schneller, ausgreifender und immer wieder blickte er gehetzt um sich, weil er meinte, Schritte gehört zu haben. Außerdem hoffte er, in irgendeinem der Vorgärten jemanden zu finden, den er nach dem Weg fragen konnte.
Plötzlich sah er eine zierliche Gestalt, die auf einen Stock gestützt aus der Tür eines weit zurückgesetzt stehenden Hauses trat und sich umblickte, irgendein pensionierter Arzt oder Anwalt, der sich hier zur Ruhe gesetzt hatte, und mal ein bißchen frische Luft schnappen wollte, dachte Micha. Er öffnete den Mund, um ihm etwas zuzurufen, da trat eine zweite, wesentlich größere Gestalt aus dem Haus, ein dürrer Mensch, ein Strich in der Landschaft, der ihm seltsam bekannt vorkam.
Micha kauerte sich instinktiv hinter einen der Steinpfeiler, die an beiden Seiten die Grundstücksauffahrt flankierten, als er in einem schmerzhaften Moment des Erkennens begriff, daß er diese Person tatsächlich kannte. Er spürte, wie das Blut in seinen Adern pochte, so laut, daß er meinte, jeder im Umkreis von zwei Kilometern müßte es hören, insbesondere die beiden, die jetzt vor dem Haus in der herbstlichen Sonne standen und sich unterhielten. Es war Tobias, Tobias Haubold, der Grund für seinen desolaten Seelenzustand, und nun erkannte er auch, mit wem er sprach. Es war Sonnenberg, der spitzbärtige Paläontologe.
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