„Natürlich kannst du auch spekulieren, Jath: Die Erde hat nie existiert, ist nur ein bizarrer Traum, ein Symbol für die Vergangenheit, eine Legende. Ist es nicht gleich, welche der Möglichkeiten zutrifft? Ändert es etwas?“
„Nein, für mich ist es nicht gleich, Beth, ich brauche die Erde…“
„Nun ja“ — sein Eifer brachte mich eine Sekunde aus der Fassung — „ich denke immer so: Gleich, wie es um die Erde steht, wir haben Andymon und sind für diesen Planeten verantwortlich. Und wir haben uns so zu verhalten, als seien wir die einzigen im Universum, als hinge allein von uns das Schicksal der Menschheit ab.“
Das waren meine Gedanken, doch ich hatte sie nicht ausgesprochen. Ich hatte geschwiegen und auf die mir vertraute Stimme Gammas gehört. Ganz flach legte ich mich auf die warme Decke und schloß die Augen.
Bevor mich die Monotonie der heranbrandenden Wellen in den Schlaf zog, dachte ich noch: Ferne Erde, ob wir es wollen oder nicht, du hältst uns alle in deinem Bann. Und obwohl ich alle Überlegungen über den Abflugort des Schiffs längst dutzendmal angestellt habe, werde ich nie aufhören, wie Jath nach dir zu suchen.
Ein abendlicher Windstoß fährt über die Terrasse und greift in die beschriebenen Seiten. Ich beschwere sie und blicke hinaus über die dunkle Weite des Meeres, dessen unablässiges Rollen das einzige Geräusch ist, das mich erreicht.
Blatt um Blatt habe ich in den vergangenen Wochen niedergeschrieben, was mir wichtig schien, jetzt bin ich fertig.
Wie sich in der Erinnerung die Proportionen wandeln. Mir ist, als hätte ich vor ein paar Tagen mit Guro und den Geschwistern den Naturpark durchstreift, als wäre vorgestern Delth in den entfesselten Gewalten eines schon gestern bezwungenen Planeten verschollen. In meiner Kindheit, unter den hochaufragenden Bäumen und kaum erklimmbaren Felsen des Schiffs, schien die Zeit stillzustehen, jeder Tag dauerte eine Ewigkeit. Doch jetzt? Das Schiff ist geschrumpft, seine Weite dahingeschwunden, und ein Tag jagt den nächsten. Habe ich nicht erst vor einer Stunde Papier und Stift ergriffen? Eine nur dem menschlichen Gehirn eigene Relativität verändert Raum und Zeit.
Ich lehne mich an die Brüstung, spüre den kühlen Stein. Feucht ist die Luft und riecht nach Salz. Kein Vogelruf belebt die Brandung — noch nicht.
Vor zwei Jahren habe ich begonnen, mir Aufzeichnungen über mein Leben und die Entwicklung unserer Gemeinschaft zu machen, sporadisch zuerst, in Form von Gedankensplittern. Die lange Zeit der Genesung, die mich vom kraftvollen Lebensrhythmus der Geschwister ausschloß, gab mir die Ruhe, sie zu ordnen.
Ja, ursprünglich sollten sie ein heimliches Geschenk für meinen Zwilling und Nachfahren Beth’ im neuen Schiff werden, ihm durch rechtzeitige Information manche Schwierigkeit, manchen Fehler, insbesondere den Konflikt mit Resth’ ersparen. Welche Illusion! Jeder muß seine Erfahrungen selbst machen. Und indem ich ihm die gleichen Startbedingungen gebe, erkenne ich die Notwendigkeit und Richtigkeit der Entwicklung unserer Gemeinschaft an.
Was ich geschrieben habe, ist nicht für Beth’ bestimmt, sondern für Beth, für mich. Habe ich mir nicht am Anfang Fragen gestellt? Ich habe mich ihrer Beantwortung, glaube ich, ein Stück genähert. Was bin ich? — Ich bin ein Teil der sich durch das All ausbreitenden menschlichen Gemeinschaft. Und ich bin ein lädierter Sterblicher, dem an manchen Tagen selbst der Schreibstift zu schwer ist, der es liebt, über das weite, offene Land oder Meer zu blicken — und der jetzt wünscht, daß sich die Schritte auf dem abbiegenden Teil der Terrasse wieder entfernen mögen.
„Noch ein paar Minuten, bitte, ich komme später zum Abendessen.“
Schwere Wolkenschichten lassen den feinen Trennstrich des Horizonts verschwinden. Himmel und Ozean verschmelzen im düsteren Farbspiel der Dämmerung.
Irgendwo da draußen, von mir aus gesehen vielleicht unter der massiven Kugel Andymons, befindet sich das alte Schiff — und der Keim des neuen. Jahrzehnte wird es noch dauern, bis wir es hinausschicken werden ins All. Das Leben in ihm wird erst erwachen, wenn das Schiff sich seinem Ziel nähert, jenem fernen Planetensystem, das wir schon jetzt ausgesucht haben. Welche Chance werden unsere kosmischen Nachfahren haben, sich dort einzurichten, zu überleben? Im günstigsten Falle treffen sie auf eine formbare Welt wie Andymon, können sich ihre eigene Erde schaffen. Im ungünstigsten finden sie nur kahle, atmosphärelose Steinwüsten, unangreifbar trotz all unserer Technologien. Dann werden sie in kosmischen Wohnzylindern leben müssen oder unter Kuppeln. Alles, was wir ihnen garantieren können, ist ein Planetensystem — mehr oder minder geeignetes Rohmaterial.
Noch haben wir nicht entschieden, aber wahrscheinlich werden wir sie so wenig über uns informieren, wie uns die Erbauer des alten Schiffs über sich informiert haben. Sie werden sich die gleichen Fragen stellen wie wir: nach dem Woher und nach dem Wohin — und nach der uns alle verbindenden Erde. Ist es nicht seltsam, daß wir die Rätsel unserer Kindheit und Jugend allein dadurch lösen, daß wir sie weitergeben? Ich bin davon überzeugt, daß wir weder die ersten noch die letzten sind. Unser Schiff ist nur eins in einer langen Reihe, wurde von einer Alfa und einem Delth, einer Gamma und einem Beth und ihren Geschwistern auf einem uns unbekannten Planeten erbaut.
Das Meer ist dunkel geworden, fast schwarz, vereinzelt stehen erste Sterne jenseits der unsichtbaren Scheidelinie. Schwarzes, totes Meer unter ebenso schwarzem, ebenso totem Firmament? Schwarz ja, aber nicht tot beide, allenfalls vorübergehend unbelebt. Wir sind nur eine Welle des großen Ansturms. Überall dort zwischen den Sternen werden sie, einer eigenen Evolution folgend, ihre Bahn ziehen. Vielleicht nur Dutzende, vielleicht bereits Millionen Schiffe, die den Teppich menschlicher Zivilisation in die Galaxis weben.
Es ist alles nur ein Anfang.
Illustrationen von Schulz/Labowski
© Verlag Neues Leben, Berlin 1982
3. Auflage, 1986
Lizenz Nr. 303 (305/203/86)
LSV 7503
Umschlag: Schulz/Labowski Typografie: Walter Leipold Schrift: 10 p Times
Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
Bestell-Nr. 643 336 2
00530