Smithson war zuerst rot geworden, aber dann wurde er bleich. Schließlich straffte sich seine Gestalt, und er warf der schimpfenden Frau einen finsteren Blick zu. »Ihr Huren findet doch immer eine Entschuldigung für eure Lüsternheit und das sündige Leben, das ihr führt«, sagte er. »Gott weiß genau, daß ich stets seine Weisungen befolgt habe.«
Er drehte sich um und ging weg, aber die Frau lief hinter ihm her und schwang ihren Gral. Es ging ganz schnell. Jemand stieß einen Schrei aus; Smithson wirbelte herum und duckte sich, bevor der Gral seinen Schädel treffen konnte.
Er rannte an der Frau vorbei, und ehe sie es sich versah, war er in den Wäldern untergetaucht. Leider, führte Ruach weiter aus, hatten nur die wenigsten der Umstehenden aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse etwas von der Auseinandersetzung verstanden.
»Sir Robert Smithson«, sagte Burton nachdenklich. »Wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen, besaß er Baumwollspinnereien und Stahlwerke in Manchester. Er war als Philanthrop und wegen seiner Mildtätigkeit gegenüber den Armen bekannt. Er soll um 1870 im Alter von achtzig Jahren gestorben sein.«
»Und möglicherweise hat er sich darauf verlassen, daß der Himmel ihn für seine Taten belohnen würde«, meinte Ruach. »Natürlich ist es ihm niemals in den Sinn gekommen, ein mehrfacher Mörder zu sein.«
»Hätte er nicht die Armen ausgebeutet, würde es eben ein anderer getan haben.«
»Das ist eine Entschuldigung, die sich durch die ganze Geschichte der Menschheit zieht«, erwiderte Ruach. »Aber es hat auch Industrielle gegeben, denen sehr wohl bewußt war, daß die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung in ihren Betrieben verbesserungsbedürftig waren. Einer davon hieß, soviel ich weiß, Robert Owen.«
»Ich sehe keinen großen Sinn darin, sich darüber zu streiten, was in der Vergangenheit war«, sagte Frigate. »Wir sollten vielmehr etwas unternehmen, was uns in unserer jetzigen Lage nützt.«
Burton erhob sich. »Sie haben recht, Yank! Was wir brauchen, sind Dächer über dem Kopf, Werkzeuge und weiß Gott was sonst noch alles! Aber zunächst, glaube ich, sollten wir einen Blick auf die Ebene werfen und nachsehen, was die Bürger dort unten treiben.«
In diesem Moment erschien unter den Bäumen Alice Hargreaves. Frigate, der sie als erster sah, brach in Gelächter aus. »Die allerneueste Mode für die Dame!« rief er.
Alice hatte unter Zuhilfenahme ihrer Schere eine Menge langer Grashalme abgeschnitten und sich daraus eine Art zweiteiliges Kleid gebastelt. Das Oberteil bedeckte in der Art eines Ponchos ihre Brüste, während das andere eine Art Rock darstellte, der ihr bis zu den Waden reichte.
Der Effekt, den sie damit erzielte, war ein komischer, und das hätte sie voraussehen müssen. Solange sie noch nackt gewesen war, hatte der kahle Schädel ihrer weiblichen Schönheit keinerlei Abbruch getan, aber im Zusammenhang mit den faserigen, grünen Umhängen, die sie jetzt trug, schien er plötzlich maskulin und häßlich.
Die anderen Frauen umringten sie und untersuchten das Graskleid und den Gürtel, der den Rock am Rutschen hinderte.
»Es kratzt und ist furchtbar unbequem«, sagte Alice, »aber es ist schicklich, und mehr soll es auch nicht sein.«
»Offenbar haben Sie das, was Sie über Ihre Nacktheit im Land der Unbekleideten sagten, doch nicht so ernst gemeint«, sagte Burton.
Alice maß ihn mit kühlem Blick und erwiderte: »Ich erwarte, daß alle diese Kleider tragen werden. Zumindest jeder Mann und jede Frau, die sich für anständig halten.«
»Ich nehme eher an, daß sich in Ihnen irgendeine alte Anstandstante regt«, entgegnete Burton spöttisch.
»Es war ein Schock, plötzlich unter so vielen nackten Menschen aufzuwachen«, sagte Frigate, »auch wenn Nacktheit am Strand und in den eigenen vier Wänden in den achtziger Jahren bereits weit verbreitet war. Aber es war noch nicht lange genug üblich, daß jeder seine Erfahrungen damit machen konnte. Die hoffnungslos Neurotischen machten sie jedenfalls nie, denke ich.«
Burton wandte sich um und sagte zu den anderen Frauen: »Was ist mit Ihnen, meine Damen? Haben Sie auch vor, diese häßlichen, kratzenden Dinger zu tragen, weil Sie plötzlich entdeckt haben, daß die Eigenheit Ihres Geschlechts einer Verhüllung bedarf? Kann jemand, der vor aller Augen nackt aufgetreten ist, sich plötzlich wieder in so etwas wie eine Intimsphäre zurückziehen?«
Da er Italienisch sprach, verstanden Loghu, Tanya und Alice ihn natürlich nicht. Für die beiden letzteren übersetzte er seine Frage in Englisch.
Alice schoß das Blut ins Gesicht. Sie sagte: »Es ist ganz allein meine Sache, was ich trage. Wenn jemand es nicht für unanständig hält, nackt zu gehen, während ich bekleidet bin, nun…«
Loghu hatte nicht ein Wort verstanden, aber offensichtlich begriff sie, was hier vor sich ging. Lachend wandte sie sich ab. Die übrigen Frauen schienen darauf zu warten, was die anderen zu tun beabsichtigten. Die Häßlichkeit und Unbequemlichkeit des Graskleides schienen dabei keine große Rolle zu spielen.
»Während ihr Frauen euch noch darüber klar werden müßt, was ihr wollt, wäre es nett, wenn ihr in der Zwischenzeit einen Bambusbehälter nehmen und mit uns zum Fluß hinuntergehen würdet. Wir könnten dort baden, die Behälter neu füllen, uns über die Situation auf der Ebene informieren und dann hierher zurückkehren. Wenn wir uns anstrengen, könnten wir es durchaus schaffen, uns einige Unterstände zu bauen, bevor die Nacht hereinbricht.«
Sie gingen in Richtung Fluß, bahnten sich einen Weg durch das hohe Gras und trugen Bambusstangen, Speere, Eimer und Steinwaffen mit sich. Schon nach kurzer Zeit stießen sie auf eine andere Menschengruppe. Allem Anschein nach hatten sich viele entschlossen, die Ebene zu verlassen. Aber das war nicht alles: Eine ganze Reihe von ihnen war mittlerweile mit Steinwerkzeugen und Waffen ausgerüstet. Das bedeutete, daß sie die Kunst der Steinbearbeitung von irgendwelchen anderen Primitiven erlernt hatten. Bisher hatte Burton lediglich die Bekanntschaft von zwei Wesen, die nicht der Gattung Homo sapiens angehörten, gemacht — und diese beiden befanden sich bei ihm. Aber wer immer auch den anderen Leute diese Techniken gelehrt hatte — er hatte nicht versagt. Sie kamen an zwei halbfertigen runden Bambushütten vorbei, die aus einem einzigen Raum bestanden und, wenn sie fertig waren, über konisch zulaufende Dächer verfügen würden, aus dem Astwerk der Eisenbäume hergestellt und mit langem Gras bedeckt. Ein Mann, der eine Steinaxt schwang, war damit beschäftigt, aus Bambusstäben ein Bett zu bauen.
Abgesehen von einer Reihe ziemlich baufällig aussehender Hütten oder Schutzdächern aus Holz und Blattwerk und einigen Leuten, die sich im Wasser tummelten, schien die weite Ebene verlassen zu sein. Man hatte die Leichen der bei den Gewalttätigkeiten der letzten Nacht ums Leben gekommenen Menschen beseitigt. Bis jetzt schien hier aber noch niemand auf die Idee gekommen zu sein, sich aus Gras Bekleidung zu basteln, denn eine ganze Reihe Leute brach bei Alices Erscheinen in Gelächter aus, zeigte mit den Fingern auf sie und machte obszöne Bemerkungen. Alice wurde rot, aber sie machte keinerlei Anstalten, sich ihres selbstentworfenen Kleides wieder zu entledigen. Die Hitze wurde immer größer, und bald begann sie sich heimlich unter ihrem gräsernen Gewand zu kratzen. Es wäre ihr sicher nie in den Sinn gekommen, dies in aller Öffentlichkeit zu tun: schließlich war sie Aristokratin und hatte eine viktorianische Erziehung genossen.
Als sie allerdings das Flußufer erreichten, stießen sie auf etwa ein Dutzend Grasmatten, die wie selbstgefertigte Kleider aussahen. Offensichtlich gehörten sie den Männern und Frauen, die sich im Moment lachend, spritzend und schwimmend im Wasser vergnügten.
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