Sie selbst, nicht Lev, war es, die die anderen in einem Satz über ihre Lebensgeschichte informierte.
»Auf der Ebene war in der letzten Nacht die Hölle los«, sagte Lev anschließend. »Tanya und mir blieb nichts anderes übrig, als um unser Leben zu laufen. Wir rannten in die Wälder, und ich kam zu dem Schluß, daß es besser sei, zu euch zurückzukehren und darum zu bitten, uns aufzunehmen. Ich möchte mich für mein gestriges Verhalten entschuldigen, Mr. Burton. Ich ließ mich zu den Bemerkungen aufgrund der Dinge hinreißen, die ich von Ihnen wußte, aber vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte mich zuerst ein wenig mit den Zusammenhängen vertraut gemacht, unter deren Eindruck Sie…«
»Lassen Sie uns darüber später reden«, sagte Burton. »Als ich dieses Buch schrieb, stand ich noch unter dem Eindruck dessen, was ich unter den Gemeinheiten und Niederträchtigkeiten der Geldverleiher von Damaskus zu erleiden hatte. Sie waren…«
»Sicher, Mr. Burton«, sagte Ruach. »Heben wir uns das, wie Sie sagten, für später auf. Ich wollte lediglich darauf hinweisen, daß ich Sie für einen fähigen Mann mit starkem Charakter halte und gern Ihrer Gruppe angehören möchte. Wir befinden uns in einem Zustand der Anarchie — wenn man Anarchie überhaupt als einen Zustand definieren kann —, und viele von uns werden Schutz benötigen.«
Es gefiel Burton nicht, wenn man ihn unterbrach. Er warf Ruach einen finsteren Blick zu und sagte: »Bitte erlauben Sie mir, daß ich Ihnen etwas erkläre. Ich…«
Frigate stand auf und sagte: »Da kommen die anderen. Ich frage mich, wo sie die ganze Zeit über gesteckt haben.«
Aber es waren lediglich vier von den neuen Menschen, die zurückkehrten.
Maria Tucci erklärte, daß sie, nachdem sie den Kaugummi probiert hatten, herumgewandert seien und schließlich bei einem der großen Feuer auf der Ebene angelangt wären. Dann war dort die Hölle losgebrochen. Es hatte schwere Kämpfe gegeben; Männer waren über die Frauen hergefallen, Männer hatten sich auf Männer, Frauen auf Frauen gestürzt, und sogar die Kinder hätte man nicht verschont. Die Gruppe hatte sich in dem allgemeinen Chaos aufgelöst. Sie selbst hatte die anderen drei erst Stunden später wieder getroffen, als sie sich bereits in den Hügeln auf der Suche nach dem Gralstein befand.
Lev fügte ihrer Erklärung noch einige Details hinzu. Je nach Gemütszustand desjenigen, der Kaugummi gekaut hatte, waren die Folgen entweder tragisch, amüsant oder erfreulich gewesen. Auf viele Menschen hatte die Droge einen lusterzeugenden Effekt ausgeübt, wenngleich dies nicht der einzige gewesen zu sein schien. So hatte es beispielsweise den Fall eines Ehepaares gegeben.
Beide, Mann und Frau, waren in Opcina, einem Vorort des Triest, im Jahre 1899 gestorben. Bei der Wiedererweckung hatten sie nur zwei Meter auseinandergelegen, waren sich in die Arme gefallen und hatten über das Glück, wieder zueinanderzufinden, vor Freude geweint. Sie hatten gemeinsam Gott für das Glück gedankt, wenngleich sie sich darüber beschwerten, daß diese Welt nicht das sei, was sie sich vom Leben nach dem Tode erhofft hatten. Aber sie hatten fünfzig Ehejahre hinter sich gebracht, also freuten sie sich darauf, von nun an bis in alle Ewigkeit zusammensein zu können.
Ein paar Minuten nachdem sie den Kaugummi in den Mund gesteckt hatten, erwürgte der Mann seine Frau, warf ihren Leichnam in den Fluß, packte eine andere Frau und verschwand mit ihr im Wald.
Ein anderer Mann war auf den Gralstein gesprungen und hatte eine Rede gehalten, wobei ihn auch der einsetzende Regen nicht zu stören schien. Er redete die ganze Nacht hindurch und erklärte den wenigen, die ihm zuhören mochten, daß er die Prinzipien einer perfekten Gesellschaft aufzustellen gedenke und wie diese in der Praxis aussähen. Als der Morgen graute, war er so heiser, daß er nicht mehr als ein Krächzen zustande brachte. Und wie sich bald herausstellte, hatte er auf der Erde zu denen gehört, die in ihrem Leben nicht einmal zur Wahlurne gegangen waren.
Ein paar Leute, die sich über das Treiben der anderen empörten, hatten versucht, die vor aller Augen sich in hektischer Aktivität paarenden Männer und Frauen auseinanderzubringen. Die Folgen: Knochenbrüche, blutige Nasen, zerschlagene Lippen und zwei Gehirnerschütterungen. Mehrere Männer und Frauen hatten die Nacht kniend verbracht, laut betend und um Vergebung ihrer Sünden bittend.
Selbst einige der Kinder waren verprügelt, vergewaltigt oder getötet worden.
Aber nicht alle Erwachsenen hatten den Verstand verloren. Eine ganze Reihe von ihnen hatte Kinder beschützt oder dies zumindest versucht.
Ruach berichtete vom Entsetzen eines kroatischen Moslems und eines österreichischen Juden, die in ihren Gralen Schweinefleisch entdeckten. Ein Hindu hatte wütende Obszönitäten in die Welt hinausgeschrien, weil sein Behälter ihm Fleisch anbot. Ein vierter Mann, der unaufhörlich schrie, sie alle befänden sich in den Händen des Teufels, hatte wütend seine Zigaretten in den Fluß geworfen. Einige Leute hatten darauf zu ihm gesagt: »Wenn du die Zigaretten nicht haben willst, warum gibst du sie dann nicht uns?«
»Tabak ist eine Erfindung des Teufels. Es ist ein Unkraut, das Satan im Garten Eden pflanzte!«
Ein Mann sagte zu ihm: »Zumindest hättest du sie mit uns teilen können. Es hätte dir doch nichts ausgemacht.«
»Am liebsten möchte ich das ganze verwerfliche Zeug in den Fluß schütten!« hatte der andere erwidert.
»Du bist ein elender Spießer und total verrückt«, hatte ein dritter Mann gesagt. Er versetzte dem Mann, der den Tabak haßte, einen Kinnhaken. Er hatte den Boden noch nicht einmal berührt, als vier andere sich auf ihn stürzten und mit den Füßen traten.
Später, als er sich wieder aufrappelte, wütend heulte und herumlief, schrie er: »Was habe ich getan, o Gott, daß ich dies hier ertragen muß? Ich bin zeit meines Lebens ein guter Mensch gewesen. Ich habe mehrere tausend Pfund für wohltätige Zwecke gespendet! Ich besuchte deinen Tempel dreimal in der Woche, kämpfte einen lebenslangen Kampf gegen Sünde und Korruption! Ich…«
»Ich kenne dich!« hatte da plötzlich eine Frau geschrien. Sie war groß, blauäugig, hatte ein hübsches Gesicht und eine gutgewachsene Figur. »Ich kenne dich! Sir Robert Smithson!«
Der Mann hörte auf zu zetern und sah sie kurz an. »Aber ich kenne DICH nicht!«
»Das kann ich mir denken! Aber du solltest mich erkennen! Ich bin eins von den tausend Mädchen, die sechzehn Stunden am Tag — und das sechseinhalb Tage in der Woche — arbeiten mußten, damit du in deinem großen Haus auf den Hügeln leben und in feinen Kleidern herumlaufen konntest. Sogar deine Hunde bekamen besseres Essen als unsereins. Ich war eins von den Mädchen in deiner Fabrik. Mein Vater war einer deiner Sklaven, meine Mutter, meine Brüder und Schwestern und alle anderen, die nicht zu krank oder zu schwach waren, um an zu wenig oder zu schlechter Nahrung in ihren schmutzigen Betten hinter zugigen Fenstern an Rattenbissen zugrunde zu gehen. Mein Vater verlor eine Hand in einer deiner Maschinen, und du ließest ihn ohne einen Penny auf die Straße werfen. Meine Mutter starb an der Weißen Seuche. Und auch ich habe mein Leben aus mir herausgehustet, verehrter Baron, während du selbst dich mit Köstlichkeiten vollstopftest, in weichen Sesseln saßest und dich in dem beruhigenden Gefühl aaltest, im Kirchenvorstand angesehen zu sein und Tausende dafür auszugeben, Missionare nach Asien zu schicken, damit man den Hungernden dort das Wort Gottes verkündete. Ich habe mir die Lungen aus dem Leib gehustet, und mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als auf die Straße zu gehen, um meine jüngeren Geschwister vor dem Verhungern zu bewahren. Und ich bekam die Syphilis, du elender, widerlicher Drecksack, weil es dir und deinesgleichen einfach gefiel, mich und meinesgleichen bis aufs Blut zu erniedrigen! Ich starb im Gefängnis, weil du dich bei der Polizei dafür stark machtest, daß sie hart und unerbittlich gegen jegliche Prostitution vorgehen solle. Du… du…!«
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