»Es war wirklich ein herrlicher Nachmittag«, fuhr Alice fort, »auch wenn der Wetterbericht etwas ganz anderes vorhergesagt hatte. Am 4. Juli 1862 war ich zehn Jahre alt… Meine Schwestern und ich trugen schwarzes Schuhwerk, weiße Söckchen, ebensolche Baumwollkleider und breitkrempige Hüte.«
Ihr Blick weitete sich, und ihre Schultern zitterten, als stünde sie irgendeinen inneren Kampf aus. Dann begann sie noch schneller zu sprechen.
»Mr. Dodgson und Mr. Duckworth trugen die Picknickkörbe… Wir stiegen in unser Boot und fuhren von Folly Bridge stromaufwärts die Isis hinauf. Mr.
Duckworth ruderte keuchend; die Tropfen fielen wie gläserne Tränen von den Rudern auf die spiegelglatte Oberfläche des Flusses, und…«
Die letzten Worte — so empfand es Burton jedenfalls — schien sie geschrieen zu haben. Verwundert sah er Alice an, deren Lippen sich bewegten, als spräche sie in einem ganz normalen Tonfall zu ihm. Ihr Blick war jetzt auf ihn gerichtet, aber der Ausdruck ihrer Augen erweckte in ihm den Eindruck, als schaue sie durch ihn hindurch in die Unendlichkeit. Sie hatte die Arme halb erhoben, als sei sie in Überraschung erstarrt und könne sie nicht länger bewegen.
Die Geräusche hatten sich verstärkt. Burton konnte das kleine Mädchen atmen hören, hörte den Schlag ihres Herzens, das Pulsieren von Alices Blut und das Rauschen des Windes, der die Zweige der Bäume ringsum bewegte. In der Ferne erklang ein Schrei.
Burton stand auf und horchte. Was hatte das zu bedeuten? Was war für diese erstaunliche Schärfung seiner Sinne verantwortlich? Wieso konnte er die Herzschläge der anderen, nicht aber seine eigenen hören? Ebenso waren ihm plötzlich die Form und die Oberflächenbeschaffenheit des unter seinen Füßen befindlichen Grasteppichs bewußt. Er konnte beinahe die unterschiedlichen Moleküle der Luft spüren, die er mit jedem Atemzug in sich hineinsog.
Alice hatte sich ebenfalls erhoben. »Was geschieht mit uns?« fragte sie.
Ihre Stimme überschwemmte Burton mit der Macht eines Sturmes.
Er antwortete nicht, sondern starrte sie nur an. Ihm wurde bewußt, daß er ihren Körper in diesem Moment zum ersten Mal in seinen richtigen Proportionen SAH. Und er sah auch SIE. Alice in ihrer Gesamtheit.
Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, hatte die Augen halb geschlossen. Ihre Lippen waren feucht. Sie schwankte und sagte mit belegter Stimme: »Richard! Richard!«
Dann blieb sie stehen; ihre Augen weiteten sich. Burton ging auf sie zu und streckte die Arme aus. Plötzlich schrie sie: »Nein!« Sie drehte sich um und flüchtete in die schützende Dunkelheit des Waldes.
Eine Sekunde lang blieb Burton stehen. Es erschien ihm in diesem Moment unmöglich, daß die Frau, die er mehr liebte, als er je eine andere geliebt hatte, ihm nicht die gleichen Gefühle entgegenbrachte. Wollte sie sich nur an seiner Lust weiden? Er rannte hinter ihr her und rief mehrere Male ihren Namen.
Stunden schienen vergangen zu sein, als plötzlich Regentropfen auf sie fielen. Entweder hatte die Wirkung der Droge nachgelassen, oder es war eine Folge des kalten Wassers, daß sie wieder zu Verstand kamen. Auf jeden Fall erwachten sie beide gleichzeitig aus der Ekstase, die sie wie in einem alptraumhaften Schlaf umfangen hielt. Er löste sich aus ihr. Sie schaute zu ihm auf. Als ein Blitz sie beide mit Helligkeit überschüttete, schrie sie auf und stieß ihn wütend zurück.
Burton fiel ins Gras und streckte gleichzeitig einen Arm aus. Er erwischte sie gerade noch an einem Bein, ehe sie sich auf allen vieren davonmachen konnte.
»Was ist los mit dir?« schrie er.
Alice hielt in ihrer Gegenwehr inne. Sie setzte sich hin, verbarg das Gesicht auf den angezogenen Knien und weinte bitterlich. Burton stand auf, legte eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie so, ihn anzublicken. Ein erneuter Blitz zeigte ihm, welche Qualen sie litt.
»Sie haben versprochen, mich zu beschützen!« schluchzte Alice.
»Sie benahmen sich nicht so, als benötigten Sie meinen Schutz«, erwiderte Burton. »Und außerdem habe ich Ihnen niemals versprochen, Sie gegen einen natürlichen und menschlichen Impuls zu beschützen.«
»Impuls!« sagte sie laut. »Ein Impuls? Mein Gott, ich habe noch nie zuvor in meinem Leben so etwas getan! Ich habe mich immer anständig verhalten! Als ich heiratete, war ich noch Jungfrau, und ich bin mein ganzes Leben lang an der Seite meines Mannes anständig geblieben! Und jetzt das… mit einem mir völlig Fremden! Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist!«
»Dann bin ich also ein Versager gewesen«, erwiderte Burton und lachte. Aber in seinem Innern spürte er ein Gefühl von Reue und Unbehagen. Wäre es mit ihrem Einverständnis, ihrem eigenen Willen geschehen, hätte er jetzt nicht die Spur eines schlechten Gewissens. Aber es war das Kaugummi gewesen. Es hatte eine starke Droge enthalten, die aus ihnen zwei Liebende gemacht hatte, deren Gier keine Grenzen kannte. Sie hatte sich ihm mit einer solchen Bereitwilligkeit und einem solchen Enthusiasmus hingegeben wie eine erfahrene Frau aus einem türkischen Harem.
»Es ist Unsinn, sich jetzt Selbstvorwürfe zu machen«, erklärte Burton. »Sie waren nicht Herrin Ihrer Sinne. Es war die Droge, die…«
»Ich habe es getan!« sagte sie laut. »Ich… Ich! Ich wollte es tun! Oh, welch billige Hure ich bin!«
»Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen dafür Geld angeboten zu haben.«
Burton hatte keinesfalls vor, sich herzlos zu geben, aber unter den gegebenen Umständen fiel ihm nichts Besseres ein, als ihren Zorn zu entfachen, damit sie nicht auf den Gedanken kam, sich von nun an für ihr Verhalten selbst zu hassen. Und seine Taktik hatte Erfolg. Sie sprang auf und griff ihn mit den Fingernägeln an. Sie zerkratzte ihm Gesicht und Oberkörper und belegte ihn mit Ausdrücken, die einer Dame aus den Tagen Königin Viktorias eigentlich gar nicht hätten geläufig sein dürfen.
Schließlich packte er, um sich ernsthafte Verletzungen zu ersparen, ihre Handgelenke und hielt sie fest, während Alice wahre Schmutzkübel über ihn ausgoß. Als sie sich endlich wieder zu beruhigen begann und erneut losheulte, führte er sie zum Lager zurück. Das Feuer bestand nur noch aus feuchter Asche.
Burton legte einiges trockenes Holz darauf, zündete etwas Gras an und sah in der aufflackernden Helligkeit das kleine Mädchen zusammengerollt neben Kazz und Monat im Gras schlafen. Alle drei wurden von den mächtigen Ästen des Eisenbaumes vor dem Regen geschützt. Dann kehrte er zu Alice zurück, die unter einem anderen Baum saß.
»Bleiben Sie mir vom Leib«, zischte sie. »Ich will Sie nie mehr wiedersehen!
Sie haben mich entehrt und beschmutzt, obwohl Sie mir Ihr Wort gaben, mich zu beschützen!«
»Wenn Sie es unbedingt vorziehen, können Sie meinetwegen erfrieren«, sagte Burton. »Ich wollte Ihnen lediglich vorschlagen, daß wir uns gegenseitig wärmen. Wenn Sie wirklich Wert darauf legen, daß dies nicht so sein soll, meinetwegen. Aber ich möchte Ihnen noch einmal sagen, daß das, was wir taten, eine Folge der Drogenwirkung war. Nein, sie hat es nicht bewirkt, denn Drogen bewirken keine Gefühle oder Sehnsüchte; sie setzte sie lediglich frei. Die Droge hat einfach die Mauer zwischen uns niedergerissen. Keiner von uns kann den anderen dafür verantwortlich machen. Dennoch wäre ich ein Lügner, wenn ich jetzt sagen würde, daß ich es nicht genossen hätte — und das gilt auch für Sie. Welchen Grund gibt es also, sich deswegen Vorwürfe zu machen?«
»Ich bin nicht von dieser tierischen Natur, die Ihnen eigen ist! Ich bin eine anständige und gottesfürchtige Frau!«
»Zweifellos«, erwiderte Burton trocken. »Aber lassen Sie mich trotzdem noch etwas dazu sagen. Ich bezweifle, daß Sie das, was Sie getan haben, nicht getan hätten, wenn Sie nicht das Bedürfnis dazu verspürt haben würden. Die Droge hat lediglich ihr Schamgefühl außer Kraft gesetzt — aber sie hat in Ihnen nicht irgendwelche nichtvorhandenen Gelüste geweckt. Die hatten Sie zweifellos schon vorher. Und das, was Sie unter Drogeneinwirkung taten, resultierte allein daraus, daß Sie es tun wollten.«
Читать дальше