»Cheever«, sagte Ashlee, »weißt du, ob er noch in der Stadt ist?«
»Ich kann es nicht beschwören, aber ich habe da meine Zweifel. Wenn doch, dann hab ich ihn nicht gesehen. Ich rede mit Leuten, ich folge den Hinweisen, ich halte die Ohren offen. Es gibt immer Gerüchte. Erinnerst du dich noch an Kirkwell?«
In Kirkwell, New Mexico, hatte im vergangenen Sommer ein klinisch paranoider Rentner, ein ehemaliger Metzger, lauthals verkündet, er messe an einem trockenen Brunnen außerhalb der Stadt — zufällig auf seinem eigenen Grund und Boden — einen Anstieg der Radioaktivität. Wahrscheinlich wollte er aus dem Brunnen eine Touristenattraktion machen.
Die Saat ging auf. Bis September campten dort zehntausend mittellose Hadschisten. Die Nationalgarde warf Lebensmittel- und Wasserrationen ab und ermahnte die Pilger, nach Hause zu gehen. Erst der Cholera gelang es, den Grundbesitz zu räumen. Der ehemalige Metzger verschwand auf Nimmerwiedersehen, in seinem Kielwasser eine Reihe von Musterprozessen und Prozessen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.
»Solche Gerüchte kommen und gehen«, sagte Cox , »aber den Vogel schießt Mexiko ab. Ciudad Portillo. Vor drei Wochen war Adam in diesem Zimmer und hat darüber gesprochen — nicht dass jemand an seinen Lippen gehangen hätte. Das war, glaube ich, der Grund, warum er sich mit den Vorstadt-Copperheads eingelassen hat: Er wollte nach Mexiko und er hat gedacht, die würden ein bisschen Kohle beisteuern oder ihm eine Fahrgelegenheit anbieten.«
Ashlee sagte: »Er ist nach Mexiko?«
Cox hob die Hände. »Ich kann es nicht beschwören. Aber wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, er war on the road und zwar in Richtung Grenze, wenn er nicht schon drüben ist.«
Ashlee schwieg. Sie sah nachdenklich und blass aus, fast niedergeschlagen. Cox gab einen Laut von sich, der Mitgefühl signalisierte. »Das ist das Problem«, sagte er. »Dumme Leute machen Dummheiten, aber Adam ist so klug, dass er eine Riesendummheit macht.«
Wir redeten noch eine Weile drum herum, aber Cox hatte alles gesagt, was er wusste. Schließlich stand Ashlee auf und ging zur Tür.
Cox umarmte sie wieder.
»Du weißt ja. Ich bin immer für dich da…«
Auf der Rückfahrt fragte ich sie, wie sie erfahren habe, dass Adam überfällig war.
Sie sagte: »Wie meinen Sie das?«
»Es hört sich an, als hätte er in Hausbesetzerkreisen verkehrt. Wenn er nicht zu Hause gewohnt hat, woher wussten Sie dann, dass er überfällig war?«
Wir hielten am Bordstein. Ashlee sagte: »Ich zeig's Ihnen.«
Sie schloss die Haustür auf und führte mich eine schmale Treppe zu ihrem Apartment hinauf. Das Apartment war ein Wohnschlauch: großes Wohnzimmer zur Straße, zwei winzige Schlafzimmer rechts vom Flur, eine quadratische Küche mit Fenster zur rückwärtigen Gasse. Es roch muffig; Ashlee meinte, sie lasse die Fenster lieber zu, solange die Müllabfuhr streike. Doch die Wohnung war hübsch und praktisch eingerichtet. Das Zuhause eines Menschen, der zwar nicht viel Geld, dafür aber Geschmack und gesunden Menschenverstand hat.
»Das hier«, erklärte Ashlee, »ist Adams Zimmer. Er mag es überhaupt nicht, wenn man da reingeht, aber er ist ja nicht da.«
Der Blick in sein Zimmer war gewissermaßen mein erster Kontakt mit Adam. Ich rechnete wohl mit dem Schlimmsten: Pornografie, Graffiti, womöglich eine abgesägte Schrotflinte im Wäschekorb.
Aber Adams Zimmer war ganz anders. Es war erschreckend ordentlich. Das Bett war gemacht. Die Schranktür stand offen, und die Anzahl der freien Bügel ließ darauf schließen, dass Adam für länger fortbleiben wollte, doch die restlichen Sachen waren akkurat aufgereiht. Das Bücherregal war ein Provisorium aus Backsteinen und Brettern, doch die Bücher standen aufrecht und waren alphabetisch geordnet, nicht nach Autoren, sondern nach Titeln.
Bücher verraten viel über den Menschen, der sie auswählt und liest. Adam neigte unübersehbar zu eher technischen Sachbüchern — Handbücher zur Elektronik, Lehrbücher (u. a. Organische Chemie und Amerikanische Geschichte), Fundamentals of Computation sowie wahllose Biographien (Picasso, Lincoln, Mao Tse-tung), Famous Trials of the Twentieth Century, How to Repair Almost Anything, Ten Steps to a More Efficient Fuel Cell. Ein Astronomiebuch für Kinder und ein Handbuch über bemannte Satelliten. Ice and Fire: The Untold Story oj the Lunar Base Tragedy. Und natürlich Bücher über Kuin. Mainstreamwerke wie Asia Under Siege von McNeil und Cassel; die meisten waren auffällig bunte Randpublikationen wie End of Days und Fifth Horseman . [26] Grundlagen des Rechnens / Berühmte Prozesse des 20. Jahrhunderts / Wie man fast alles repariert / Zehn Schritte zu einer effizienteren Brennstoffzelle I Eis und Feuer: Die wahre Geschichte über die Tragödie der Mondbasis / Asien im Belagerungszustand / Der fünfte apokalyptische Reiter
Es waren keine Fotos von Mitmenschen zu sehen, aber die Wände waren mit Magazinbildern verschiedener Chronolithen tapeziert. (Ich verdrängte die Erinnerung an Sue Chopras Büro in Baltimore.)
Ashlee sagte: »Sieht das aus, als wollte er nie mehr nach Hause kommen? Das ist sein Mittelpunkt. Vielleicht hat er nicht jede Nacht hier geschlafen, aber von vierundzwanzig Stunden war er seine acht bis zehn hier. Immer.«
Sie machte die Tür wieder zu.
»Komisch«, sagte sie, »ich habe immer gedacht, ich hätte ihm ein Zuhause geboten. Aber dem war nicht so. Er hat sich sein eigenes Zuhause gemacht. Es war nur zufällig mitten in meinem.«
Sie brühte Kaffee auf, und wir unterhielten uns noch eine Weile, saßen auf dem langen Sofa beim Geräusch des Straßenverkehrs, der durch die geschlossenen aber einfach verglasten Fenster drang. Der Moment hatte etwas zutiefst Wohltuendes — Ashlee hantierte in der Küche, glättete geistesabwesend ihr widerborstiges Haar —, etwas beinah leiblich Wohltuendes, ein Schatten der Behaglichkeit, die ich vor mehr als zehn Jahren verloren hatte. Ich war ihr dankbar dafür.
Doch ein Moment ist von Natur aus flüchtig. Sie erkundigte sich nach Kaitlin, und ich erzählte ihr einiges (nicht alles) über Chumphon und wie ich die letzten zehn Jahre verbracht hatte. Sie war beeindruckt, dass ich das Jerusalem-Ereignis miterlebt hatte, nicht etwa, weil ihr Kuin etwas bedeutete, sondern weil es bedeutete, dass ich mich, wenn auch nur am Rande, unter Menschen aufgehalten hatte, die sie zu den relativ Wohlhabenden und einigermaßen Berühmten zählte. »Sie haben wenigstens etwas getan«, sagte sie, »nicht bloß auf der Stelle getreten.«
Ich hielt ihr entgegen, sie habe auch nicht bloß auf der Stelle getreten: Für eine alleinstehende Frau sei es bestimmt nicht einfach gewesen, in dieser Wirtschaftskrise ein Kind großzuziehen.
»Auf der Stelle treten« , sagte sie, »heißt nicht vom Fleck kommen . Und genau so kommt es mir mit Adam vor. Ich hab versucht, ihm zu helfen, aber ich kam nicht voran.« Sie hielt inne, dann drehte sie mir ihr Gesicht zu, ihr Ausdruck war weniger beherrscht als bisher. »Angenommen, sie sind wirklich nach Mexiko — Adam und Kaitlin und diese Clique. Was machen wir dann?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich muss mit einigen Leuten reden.«
»Würden Sie Kaitlin nachreisen, den ganzen Weg bis Portillo?«
»Wenn ich ihr helfen könnte. Wenn es nützen würde.«
»Aber Sie sind sich nicht sicher.«
Mein Handy klingelte. Ich hatte auf Anrufbeantworter geschaltet, sah aber nach, wer da anrief. Es hätte Janice sein können, weil Kaitlin wieder aufgetaucht und alles bloß ein Missverständnis gewesen war. Oder Ramone Dudley, weil die Polizei Kaits Leiche gefunden hatte.
Es war eine SMS von Sue Chopra. Sie hatte meine private Handynummer ausfindig gemacht (obwohl ich sie beim Verlassen von Baltimore geändert hatte) und bat mich, so bald wie möglich zurückzurufen.
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