»Er arbeitet nachts. Falls Sie wissen wollen, was er macht; es wird Ihnen nicht gefallen.«
»Ist er Zuhälter?«
»Das nicht«, sagte sie. »Ein Dealer, würde ich sagen.«
In der Woche zuvor war ich viel im Internet gewesen, hatte das Phänomen der »Hadsch-Jugend« und der kuinisüschen Bewegung recherchiert und mir Zugang zu ihren versteckten Chatrooms verschafft.
Die kuinistische Bewegung gab es natürlich nicht. Ohne einen leibhaftigen Kuin war die Bewegung ein Flickwerk aus utopistischen Ideologien und quasi-religiösen Kulten, die versuchten, einander den Rang abzulaufen. Gemeinsam hatten sie den Gegenstand der Verehrung, die Anbetung der Chronolithen. Für die Hadschisten war jeder Chronolith ein Heiligtum. Hadschisten schrieben diesen Monolithen allerhand Wunderdinge zu: Erleuchtung, Heilungen, seelische Wandlungen und Epiphanien unterschiedlichen Grades. Aber anders als etwa die Menschen, die nach Lourdes pilgerten, waren die Hadschisten fast ausnahmslos blutjung. Es war eine »Jugendbewegung« (ein Begriff, den das 20. Jahrhundert geprägt hatte). Wie die meisten Bewegungen dieser Art bestand sie zur Hälfte aus Habitus. Nur ganz wenige Amerikaner pilgerten wirklich zu einem Chronolithen, doch Teenager mit einem Kuin-Logo waren keine Seltenheit — meistens das verbreitete »K+« im roten oder orangefarbenen Kreis. (Oder eines von den subtileren, vermutlich geheimen Zeichen: Narben an Brustwarzen oder Ohrläppchen, silberner Fußreif, weißes Stirnband.)
In Ashlees Viertel war das »K+« allgegenwärtig, es war mit Kreide oder Farbe an Wände und auf Gehsteige gekritzelt oder gesprayt. Ich hielt zur verabredeten Zeit neben dem chinesischen Restaurant und Ashlee huschte aus der Haustür und auf den Beifahrersitz. »Gut, dass Sie ein billiges Auto fahren«, sagte sie. »Ich will nicht auffallen.«
»Wohin fahren wir?«
Sie gab mir eine Adresse fünf Häuserblocks stadteinwärts, wo es nur noch Lagerhäuser, Fastfood zum Mitnehmen und Spirituosenläden gab.
»Der Bursche«, sagte Ashlee unvermittelt, »heißt Cheever Cox und hat die Finger in so ziemlich allen Geschäften, die man in keine Steuererklärung schreiben darf. Ich kenne ihn, weil er mir immer Tabak verkauft hat.« Sie sagte es ohne jede Auffälligkeit in der Stimme, vergewisserte sich aber flüchtig, was ich wohl für ein Gesicht machte. »Ich meine, bevor ich die Sucht attestiert bekam.«
»Was weiß er über Kait und Adam?«
»Vielleicht gar nichts, aber als ich ihn gestern anrief, da erwähnte er einen Billighadsch und ein neues Gerücht über Kuin und dass das nichts für eine unverschlüsselte Leitung sei. Cheever ist darin ziemlich paranoid.«
»Und, ist was dran? Was meinen Sie?«
»Wo bin ich mit Ihnen dran? Weiß man's?«
Sie fuhr das Fenster herunter, zündete sich eine Zigarette an und wartete fast trotzig auf meine Reaktion. Minnesota hatte mit die strengsten Tabakgesetze in den Staaten. Doch ich war aus einem anderen Bundesstaat und alt genug, um nicht schockiert zu sein. Ich sagte: »Ashlee? Schon mal ans Aufhören gedacht?«
»Oh — bitte!«
»Ich will Sie nicht maßregeln, ich mache lediglich Konversation.«
»Und ich rede höchst ungern darüber.« Sie blies geräuschvoll den Rauch aus dem Fenster. »Da war nicht sehr viel, was mich in den letzten paar Jahren zusammengehalten hat, Mr. Warden.«
»Scott.«
»Dann eben Scott. Nicht, dass ich zu schwach wäre. Aber… haben Sie jemals geraucht?«
»Nein.« Mir waren die Anti-Sucht-Impfungen erspart geblieben, die man damals den jungen Leuten aufgedrängt hatte, vor allem das Folgerisiko eines späteren Immunproblems; Tabak war einfach nicht mein Ding gewesen.
»Wahrscheinlich bringt es mich um, aber was hab ich denn anderes?« Sie schien nach einem Gedanken zu suchen, gab es dann aber auf. »Die Zigarette beruhigt.«
»Ich verurteile Sie nicht. Eigentlich mag ich den Geruch von brennendem Tabak. Aus der Entfernung zumindest.«
Sie zog ein halbes Lächeln. »Aha. Sie sind mir vielleicht ein Degenerierter.«
»Vermissen Sie Kalifornien?«
»Vermisse ich Kalifornien !« Sie rollte mit den Augen. »Ist das eine richtige Unterhaltung oder sind Sie bloß nervös wegen Cheever? Das brauchen Sie nicht. Er ist ein bisschen zwielichtig, aber kein schlechter Mensch.«
»Das ist beruhigend«, sagte ich.
»Sie werden sehen.«
Die Adresse war ein baufälliges Fachwerkhaus, eine Doppelhaushälfte. Die Verandabeleuchtung brannte nicht, vermutlich ein Dauerzustand. Die Stufen bogen sich durch. Ashlee öffnete das rostige Fliegengitter und pochte an die Tür.
Cheever Cox schloss auf, als Ashlee sich zu erkennen gab. Er war kahl, Mitte dreißig, trug Levis und ein blassblaues Hemd mit tomatenroten Spritzern auf der Kragenspitze. »Heh, Ashlee«, begrüßte er sie und drückte sie an sich. Mich bedachte er mit einem kurzen Blick.
Ashlee stellte mich vor und sagte zu Cox: »Wir haben telefoniert, du weißt schon.«
Im Wohnzimmer standen ein verblasstes Sofa, zwei hölzerne Klappstühle und ein Couchtisch mit Aschenbecher. Hinten im schummrigen Flur konnte ich die Ecke einer Küche sehen. Wenn Cox mit seinen illegalen Drogengeschäften viel Geld machte, dann hatte er es nicht in seine Einrichtung gesteckt. Aber vielleicht besaß er ja ein Landhaus.
Er bemerkte die Packung Zigaretten, die aus Ashlees Hemdtasche lugte. »Scheiße, Ashlee«, sagte er, »du bist auf Attest? Die Scheißregierung macht mir das Geschäft kaputt mit diesen legalen Krümelstäbchen.«
»Läuft nächstes Jahr aus und wird nicht mehr verlängert«, sagte Ashlee. »Dann droht mir eine Gentherapie oder eine Kur. Das Schlimmste: Ich verliere die Krankenversicherung.«
Er grinste. »Dann sehen wir uns also wieder öfter?«
»Keine Chance.« Sie sah mich flüchtig an. »Ich lass mir die Zähne aufhellen und finde einen guten Job.«
»Und wirst Bürger«, sagte Cox.
»Genau.«
»Und heiratest deinen Freund?«
»Er ist nicht mein Freund.«
»Okay, Ash. Mach dir nichts draus. Was willst du? Ein bisschen mehr, als der Apotheker rausrückt?«
»Es ist wegen Adam. Ich will dir ein paar Fragen stellen.«
»Ja sicher, aber das kann doch nicht alles sein.«
Cox ließ keinen Zweifel, dass er nur etwas zu sagen hatte, wenn Ashlee etwas kaufen würde. Geschäft sei Geschäft, meinte er.
»Es geht um meinen Sohn, Cheever.«
»Schon klar, und ich liebe dich, und ich liebe Adam, aber Ashlee, ich muss leben .«
Also gab sie ihm Geld für eine Schachtel freie Glimmstängel, die er aus dem Keller holte. Sie hielt die Schachtel im Schoß. Die Schachtel stank.
Cox machte es sich auf seinem Stuhl bequem. »Es ist so«, erzählte er Ashlee, »dass ich bei den Hausbsetzern aus- und eingehe, besonders unten auf der Franklin oder in Lowertown oder in den alten Cargill-Speichern: Also sehe ich die Kids. Und du weißt, dass sich da auch Adam herumtreibt. Das ist kein großer Markt für mich, weil diese Kids normalerweise keine Kohle haben. Das Essen klauen sie sich zusammen. Aber manchmal kommt einer zu was, ich frage nicht, wie, und sie wollen eine Schachtel, zwei Schachteln — Glimmstängel und Drinks und Tabletten und so weiter. Adam kam zum Beispiel ziemlich oft zu mir, denn er kannte mich ja aus der Zeit, als du hier noch ein- und ausgegangen bist.«
Bei dieser Erklärung senkte Ashlee den Blick, sagte aber nichts.
»Also ehrlich, Adam hat ein bisschen mehr drauf als die meisten von denen. Sie nennen sich Hadschisten oder Kuinisten und sind so politisch wie ein Pflasterstein. Weißt du, wer die richtigen Hadschisten sind? Reiche Kids. Reiche Kids und Promis. Sie gehen nach Israel oder Ägypten und brennen ihre Räucherkerzen oder sonst was ab. In der Stadt sieht das anders aus. Da würden die meisten von diesen Kids ihren Arsch nicht mal hochkriegen, wenn Kuin im Hinterhof einen Krönungsball gibt. Na ja, Adam hat das bald kapiert. Deshalb hat er sich bei diesen Copperhead-Clubs in Wayzata und Edina herumgetrieben — hat nach Leuten gesucht, die so dachten wie er, aber vielleicht ein bisschen leichtgläubiger und ein bisschen besser bei Kasse waren als die Kumpels in der Stadt.«
Читать дальше